Meine Geschichten
  Zweitauesend Seelen
 
Mick hatte bis jetzt die ganze Zeit geschwiegen. Dann aber sah er mich stirnrunzelnd an.
„Aber du... wusstet ihr denn nicht, dass ihr alle untergehen würdet?“ fragte er nach und nahm mir das Büchlein aus der Hand.
„Ich meine ihr...“ fing er an, aber ich ließ ihn nicht ausreden.
„Mick, wenn dir jemand sagt, der Schaden ist gering und das Schiff ist unsinkbar, was würdest du da glauben? Dass ihr trotzdem sinken werdet, obwohl es laut den Leuten, die dieses Schiff kennen wie ihre Westentasche, nicht möglich ist? Ja, ich habe auch gedacht, alles ist möglich. Und dass es möglich war das Schiff zu versenken hat man ja wohl nur zu deutlich gesehen.“ sagte ich laut und seufzte dann.

Aber es dauerte gar nicht einmal lang, da blieb das vertraute Vibrieren des ganzen Schiffes durch die Motoren wieder aus. Wir standen, weil es scheinbar nicht möglich war, weiter zu fahren. Aber eine Weile kümmerte es niemanden. Ich zog nur einen Mantel über meine Rettungsweste und trat wieder nach draußen, denn es war in dieser Nacht ungewöhnlich kalt. Auf der Brücke sah ich Kapitän Smith, wie er sich leise mit einem seiner Offiziere unterhielt. Leute liefen an mir vorbei, grüßten freundlich, aber ich sah Angst in ihren Augen. Zwar noch unbestimmt, aber irgend etwas war da. Wieso fuhren wir nicht weiter, wenn doch scheinbar alles in Ordnung war? Macht man das immer so, ein Routinemanöver gegen Ende der Reise durchführen, Menschen in Angst und Schrecken versetzen? Sicherlich nicht.

Suchend sah ich mich nach Emily um, fand sie aber nirgendwo. Jetzt zu ihrer Kabine zu gehen wäre töricht, wusste ich doch, dass auch ihr Vater dort sein würde. Eine Aussprache käme uns allen zwar gelegen, aber ich musste den Gedanken wieder verwerfen, weil ich ihre Zimmernummer nicht kannte, was es mir unmöglich machte, sie aufzusuchen. Inzwischen versammelten sich immer mehr Menschen an deck, es entstand ein regelrechtes Gedränge. Wenn hier eine Panik ausbrach...


Montag, 15. April 1912, 0.45 Uhr
Bitte bewahren Sie Ruhe!“ dröhnte die Stimme mehrerer Offiziere durch die Nacht. Emily fand schließlich doch noch ihren Weg zu mir. Zusammen sahen wir zu, wie die Rettungsboote klar gemacht wurden.
Ich sah dabei zu, die Hände in die Taschen meines Mantels geschoben. Meine Koffer und alles was darin war, konnte meinetwegen sinken. Hinter mir fauchte etwas und ein helles Licht erhellte die Nacht. Eine von insgesamt zehn Leuchtraketen, mit denen die Titanic schon seit einer halben Stunde versuchte, Kontakt zu anderen Schiffen zu erhalten. Die Teile verglühten und regneten ins Wasser, wo sie zischend versanken.

Aber es kam keine Antwort. Minutenlang nicht. Dann schoss eine zweite Leuchtrakete in den Himmel. Ich sah zu Emily herunter, die sich an mich gedrückt hatte und schob meinen Mantel auseinander, denn die hatte ihren in ihrer Kabine gelassen. Also hüllte ich sie darin ein und zog sie enger zu mir. Irgendwann hörte das Zittern auf.
Hast du Angst?“ fragte ich herunter und hörte sie lachen. „Nein. Mir ist nur kalt, das ist alles.“
Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter und ich sah zwei Männer in Uniform hinter mir stehen, das Emblem der White Star Line auf den Jacken und Mützen. Anscheinend Mitglieder der Crew.

Mr. Fitzgerald?“ fragte einer von ihnen und ich drehte mich herum.
Ja?“ fragte ich. Was konnte man jetzt von mir wollen? Einer der beiden packte mich am Arm. Es brauchte eine Menge Beherrschung, ihm nicht hier und jetzt die Kehle heraus zu reißen, aber dann hätte es sicherlich eine Massenpanik gegeben.
Sie werden aufgefordert, sich in einer Angelegenheit äußerster Dringlichkeit beim Bootsmann zu melden.“ sagte er sehr leise und zog an meinem Arm, sodass ich gezwungen war, ihm durch die Menge zu folgen. Ich sah Emily noch einmal an.
Geh schon mal in ein Rettungsboot. Ich nehme dann ein späteres.“ sagte ich und wandte ihr den Rücken zu.

Doch nach einer Weile musste ich mich doch sehr wundern. Wir betraten hier nicht etwa das Quartier des Bootsmannes, wohl aber die unteren Decks, die der dritten Klasse.
Okay, was geht hier vor sich?“ fragte ich langsam und blieb stehen.
Mr. Fitzgerald, Sie werden beschuldigt, gestern Nacht eine junge Frau... nun sagen wir, nicht sehr nett behandelt zu haben. Ihr Vater hat sich bei uns beschwert und die sofortige Aussetzung Ihrer Strafe angeordnet.“ Ehe ich noch realisieren konnte, was los war, hatte man mich schon mit Handschellen an ein an die Wand geschweißtes Bettgestell gefesselt. Und die Handschellen waren nicht aus gewöhnlichem Stahl. Das war Silber. Die wussten, wer und was ich war. Ich fauchte im Reflex, aber nun, da ich ihnen an den kurzen Ketten nichts mehr tun konnte, wurden sie mutiger. Ich steckte viele Schläge und Tritte ein, bis sie endlich von mir abließen.
Viel Spaß beim Ertrinken, Blutsauger.“ warfen sie mir noch zu, dann schwang die Tür zu und ich war allein.
Verdammt.“ knurrte ich und riss an den Ketten.
Verdammt, verdammt, VERDAMMT!“ und wie das nun mal so üblich ist mit Handschellen aus Silber: Sie lähmen dich, machen dich träge und lassen sich dummerweise auch nicht zerreißen.

Es war mehr als unwahrscheinlich, dass Emily mich hier unten suchen kommen würde, denn sicherlich hatte sie schon eines der Rettungsboote genommen und war auf und davon, weg von dem sinkenden Schiff, weg von mir. Ob sie das am Ende so wollte? Hatte sie vielleicht ihrem Vater erzählt, was ich war, obwohl ich sie gebeten hatte es nicht zu tun? Und hatte ihr Vater vielleicht gerade deswegen geglaubt, ich sei eine Gefahr für seine Tochter und deshalb beschlossen, mich hier unten ertrinken zu lassen? Wusste er, dass es nicht möglich war, dass ich ertrank?
Und wenn er das wusste, warum hatte er mich nicht noch erschossen? Weil er sich nicht die Hände schmutzig machen wollte? Oder wollte, dass es jemand sah? Hier unten entdeckte mich, wenn ich Pech hatte, nie jemand. Es lief also alles ganz nach Plan für Mr. Santero, dachte ich mit einem bitteren kleinen Schmunzeln.

Ob ich es schaffen würde, nach einem Sinken von ca. drei Meilen aus einer Tiefe unbeschadet wieder aufzutauchen, in der meine Knochen zu dünnen Plättchen wurden und trotzdem noch allen weiß zu machen, ich sei nicht dort unten festgebunden gewesen? Es war müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn hier würde ich sicher nicht wieder heraus kommen, um davon zu erzählen.Wenn ich aus dem Fenster sah, konnte ich das Wasser sehen, dass an den Fenstern leckte. Und das dort hinten war sogar offen, verdammt. Noch ein paar Zentimeter mehr für dieses Schiff unter der Wasseroberfläche und ich würde lange, lange die Luft anhalten müssen. Wieso konnten diese Ketten sich nicht einfach in Nichts auflösen und mich gehen lassen? Ich war doch schon tot, wieso musste ich noch einmal sterben?

Draußen auf dem Gang hörte ich Schritte, gerade als das Schiff so weit unter die Wasseroberfläche gesunken war, das schon der Schrank, der sich in diesem Zimmer befand, bedenklich neigte. Und ich hatte nicht viel Lust, von einer Masse Holz und Metall erschlagen zu werden.
Charles?“ rief jemand draußen auf dem Gang. Ich lauschte. Das war doch...
Emily?“ rief ich überrascht zurück, aber das war zu kurz gewesen, als dass es ihr meinen Standpunkt verraten hätte.
Folge einfach meiner Stimme, Emily. Hier hinten, hörst du? Den Gang runter, die letzte Tür!“ rief ich aus Leibeskräften und hörte Schritte, die in meine Richtung liefen. Gerade atmete ich erleichtert auf, als das Schiff beschloss, sich noch ein bisschen weiter zu neigen und so dem Wasser eine Chance zu geben, sich durch das Fensterchen in mein Gefängnis zu ergießen.
Könntest du dich vielleicht beeilen? Ich weiß, ich habe immer gesagt ich könnte nicht noch mal sterben, aber...“ Die Schritte verharrten vor der Tür.
Ich bekomme sie nicht auf!“ rief sie verzweifelt. „Es ist abgeschlossen.“
Natürlich ist die Tür abgeschlossen!“ fauchte ich unwirsch zurück. Ich riss an meinen Ketten, aber nichts rührte sich.

Herrgott, hast du denn nicht eine Anstecknadel, oder Haarklammer irgendwas, womit du...“ Ein triumphierender Schrei von draußen.
Haarnadeln! Damit könnte es gehen. Ich habe so etwas noch nie gemacht, aber...“ Ich stöhnte auf. Das Wasser floss jetzt schneller in die Kabine und ich stand schon darin. Die Tür erreichte es auch gerade, als das Schloss klickte und ich hörte sie zurückspringen.
Was machst du denn da drinnen?“ fragte sie. Ich fauchte.
Ich musste mal.“ murmelte ich sarkastisch. „Was denkst du denn?!“ Leicht pikiert machte sie die Tür auf und blieb sofort stehen. Während sie die Szenerie in sich aufnahm, fürchtete ich halb, sie würde ohnmächtig werden. Das geschah nicht. Sie kam nur zu mir herüber.
Wer hat dir das ange-“ fing sie an, aber ich schnitt ihr das Wort ab. „Wer mir das angetan hat solltest du dich mal fragen.“ zischte ich, während sie mit der Nadel im Schloss herumstocherte. Sofort hörte sie auf und trat einen Schritt zurück.

Und warum sollte ich das?“ fragte sie mit wütend funkelnden Augen nach. „Weil... die wissen, was ich bin. Die Einzige, der ich es erzählt habe warst du. Und jetzt sage mir nicht, du hättest das alles schön für dich behalten, wie abgesprochen!“ Statt weiter wütend auszusehen senkte sie schuldbewusst den Kopf. Das reichte mir als Antwort.
Ich schnaubte angewidert.
Du verstehst das nicht... ich... mein Vater hat mich ausgequetscht. Du weißt nicht, wie er ist! Wenn er etwas wissen will, dann lässt er dich nicht mehr in Ruhe. Ich habe nur Andeutungen gemacht, aber dann hat er.... er hat die Wunden an meinem Arm gesehen und eins und eins zusammen gezählt, was sollte ich denn machen? Ich hätte ihn nicht aufhalten können!“ sagte sie erstickt. Das Wasser reichte mir bis an den Knöchel und stieg unaufhaltsam weiter.

Dann kommt es dir ja sehr gelegen, dass ich hier festsitze.“ murmelte ich, als sie wieder anging im Schloss herumzustochern. Sofort hörte sie auf und sah mich an. „Wenn du das glaubst dann... wäre ich hier, wenn es so wäre? Aber ich kann ja wieder gehen...“ meinte sie und ging zur Tür, als mein Zuruf sie aufhielt.
Nein, warte. Natürlich wärst du nicht hier.“ Abwartend sah sie mich an und ich seufzte.
Und dann wärst du auch nicht gekommen um mich zu suchen.“ redete ich weiter und schließlich klickte das Schloss auf. Ich streifte die Handschellen ab und ging mit ihr aus dem Raum. Hier stand uns das Wasser schon bis ans Knie. Gott allein wusste, wie lange es dauern würde, bis hier alles unter Wasser stand.

Komm.“ Ich nahm ihre Hand und zog sie die Treppe nach oben, nur um dann fest zu stellen, dass das Gitter, mit dem die Ausgänge versperrt waren, wirklich versperrt war. Und niemand, der einen Schlüssel in der Hand hatte, war in der Nähe. Ich fluchte laut. Blieb wohl nur rohe Kraft. Ich nahm Anlauf, um mich gegen das Gitter zu werfen, als unter uns ohrenbetäubend Glas barst und sich Tonnen von Wasser zu dem gesellten, das schon da war. Offenbar hatten die Scheiben dem Druck nicht mehr standgehalten und waren implodiert.
Verdammt, verdammt.“ knurrte ich und warf mich wieder gegen das Gitter. Zwanzig Sekunden noch, höchstens, und wir würden an das Gitter gepresst und von diesem vermutlich zu diesen Mandalas verarbeitet, die Kinder aus Papier schnitten. Schön mit Musterung. Man musste sich schon geehrt vorkommen, wenn man mit dem Emblem der White Star Line auf der Wange aus dem Wasser gezogen wurde, dachte ich wütend.

Zehn Sekunden. Wieder warf ich mich mit aller Kraft gegen das Gitter. Das Wasser stand uns bereits bis zur Hüfte und es war buchstäblich eiskalt.
Fünf Sekunden. Gerade als ich aufgeben wollte, weil mir das Wasser sprichwörtlich bis zum Hals stand, gab das Gitter unter meiner Kraftanstrengung nach und ich zog Emily mit mir. Mehr schwimmend als laufend erreichten wir das nächste Deck. Nicht mehr lange, und auch hier würde alles unter Wasser stehen.
Komm. Wir finden sicher noch ein Rettungsboot, dass uns aufnimmt.“ Dass dich aufnimmt, korrigierte ich in Gedanken, denn an Deck bestätigte sich meine Vermutung. Offiziere mit gezogener Waffe, die auf Gedeih und Verderb den Befehl durchsetzen wollten, den der Kapitän ihnen kurz zuvor gegeben hatte: Frauen und Kinder zuerst. Nur, wo keine Frau mehr da war und noch Platz im Boot, wurden Männer aufgenommen.

Ich würde es schon irgendwie schaffen, dachte ich. Selbst wenn ich kein Rettungsboot fand, was sehr wahrscheinlich war, dann hatte ich immer noch eine Chance zu überleben. Das war nicht anders als schlafen. Und wenn ich zusammen mit den Leichen, die es sicherlich geben würde, aus dem Wasser gezogen wurde... würde es denn jemand merken, wenn ich einfach verschwand? Wenn man meine Leiche nie fand oder einen Beweis, dass ich noch lebte?
Ich schob Emily vor mir her zu den Booten. Rechts von mir wurde gerade eines zu Wasser gelassen.
Und abfieren!“ schrie einer der Männer und langsam senkte sich das Boot Richtung Wasseroberfläche. Es war nicht weit bis da hin, aber irgend etwas lief schief. Eine der Halteleinen riss und das Boot bekam Schlagseite. Wie wenn man eine Nussschale umkippt, purzelten Menschen aus dem Boot und in das eiskalte Wasser, das Boot, auf das sie sich hatten retten sollen fiel auf sie und zerbarst.
Emily schluckte, aber ich drückte aufmunternd ihre Schulter.
Geh. Ich nehme das nächste. Wir sehen uns ganz sicher in New York, ich versprechs dir.“ flüsterte ich und küsste sie. Zögernd ging sie zum Boot, wo ein Offizier ihr hinein half. Sie saß schon halb und das Boot wurde gerade zu Wasser gelassen, als ich mich abwandte.
Das kann ich nicht tun!“ rief sie und ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um, um sie auf zu fangen.
Was machst du denn, Dummerchen?“ flüsterte ich erschrocken. „Das wäre dein Ticket in die Sicherheit gewesen! Ich will nicht, dass du...“ sie schüttelte nur den Kopf.

Wenn ich gehe, dann werde ich in New York einen anderen Mann heiraten. Ich werde so tun, als würde ich ihn lieben, nur um in der Gesellschaft gut da zu stehen. Das will ich nicht! Ich will bei dir sein, nirgendwo sonst. Auch wenn...“ sie biss sich auf die Lippe und sprach dann weiter.
Auch wenn das mein Tod ist.“ beendete sie den Satz. In diesem Moment klinkte sich bei mir etwas aus. Bevor ich mich selbst zurückhalten konnte, hatte ich ausgeholt und ihr mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Das Klatschen des Schlages ging im allgemeinen Lärm unter, aber ich hörte es.
Verwundert und schockiert starrte sie mich an und hielt sich die Wange.
Bist du komplett wahnsinnig?!“ schrie ich sie an.
Steig in das Boot!“ knurrte ich. Sie schüttelte störrisch den Kopf und wir sahen dabei zu, wie das letzte Boot auf dieser Seite im Wasser davon schwamm.

Verdammt, was soll denn das?“ rief ich, meine ganze gute Erziehung vergessend. „Du musst leben, verstehst du? Du darfst nicht... nicht meinetwegen!“
Ihre Unterlippe bebte und sie senkte störrisch den Kopf. „Ich will aber, verstehst du das nicht?“ rief sie zurück. Ich musste mich an der Reling festhalten, oder ich wäre weggerutscht.
Meiner Meinung nach benahm sie sich wie eine störrische Sechsjährige. Mit Mühe bekam ich meine Emotionen und vor allem diese sinnlose Wut auf ihr Handeln wieder unter Kontrolle.
Das war das letzte!“ rief der Offizier neben mir und ich fuhr so heftig zu ihm herum, dass er mich erschrocken anstarrte. Wütend packte ich ihn am Revers seiner Uniform.
Was soll das heißen, das war das Letzte?“ knurrte ich bedrohlich und sah, wie sein Adamsapfel beim Schlucken rauf und runter wanderte. „Das... das letzte Rettungsboot. Es... es gibt keine mehr, Sir.“ stammelte er und ich ließ ihn los. Ruckartig wandte ich mich zu Emily um.
Siehst du, was du getan hast? Siehst du das? Du hättest frei sein können! Du hättest nicht...“ meine Faust traf die Reling und hinterließ eine Delle darin. Der Offizier starrte noch erschrockener.
Schön.“ sagte ich mit mühsam beherrschtem Zorn in der Stimme. „Wirklich sehr schön.“ Ein schauerliches Stöhnen ging von dem Schiff aus, gerade da, wo wir standen und schien durch den ganzen Körper des Schiffes zu hallen wie der Schmerzenslaut eines verwundeten Wals.

Dann brach plötzlich das Deck weg an der Stelle, an der wir standen. Nur zwei Fuß davon entfernt rissen die Planken auseinander, als habe eine unsichtbare Riesenhand das Schiff gepackt und reiße es in Stück wie einen Brotlaib. Die Lampen an und unter Deck flackerten noch zweimal, dann wurde es dunkel. Ich erkannte die Gefahr schneller als alle anderen und packte Emily an der Hand.
Los, los, los!“ rief ich und riss sie mit mir fort. Jetzt neigte sich das Heck immer weiter abwärts. Es war, als versuche man eine Wippe herauf zu laufen, die von jemand anderem immer weiter gekippt wurde. Menschen trudelten an uns vorbei, Schreie gellten durch die Luft. Und auch wenn ich alles gestochen scharf wahrnahm, kam es mir unwirklich vor. Das passiert nicht dir, dachte ich immer wieder. Du läufst nicht gerade ein Holzbrett nach oben und versuchst dich vor dem Abgrund zu retten, der dabei ist, dich zu verschlingen.

Als ich nach unten sah, war mein nächstes Ziel, noch schneller zu werden, mich irgendwo fest zu halten, dem ein Ende zu machen, aus diesem Albtraum aufzuwachen und festzustellen, dass das alles nicht real war. Unter mir erstreckte sich nur der atlantische Ozean wie ein gieriges Maul, dass Schiff, Passagiere und Besatzung fraß. Dann klammerten meine Hände sich um die Reling und zogen sich daran hoch, ebenso wie Emily. Doch bevor sie ganz in Sicherheit war, trat sie fehl. Ich hatte noch versucht, sie zu packen zu bekommen. Im letzten Moment glitten ihre eiskalten Finger durch meine Hand und ich behielt nur einen Ring zurück, denn ich in der Faust zusammenpresste, bis er Blechschrott war. War es ein Geschenk an mich und ich hatte es zerstört, so erhielt ich einen Lidschlag später die Quittung. Ihr ganzer Körper schlug auf einen eisernen Poller auf, der noch aus dem Wasser ragte. Ich konnte das Knacken ihrer Knochen bis zu mir herauf hören, bevor das Schiff gänzlich versank und ich weg sprang und um mein Leben schwamm. Ich spürte den Sog, der mich in die Tiefe zu reißen drohte, doch ich kämpfte dagegen an. Schließlich schaffte ich es an die Wasseroberfläche und auf ein Stück Treibholz. Vielleicht war es mal eine Tür gewesen oder ein Stück der Wandverkleidung. Mir war es egal. Wichtig war nur, dass ich überlebt hatte. Und noch wichtiger und nicht weniger schrecklich für mich: Emily war tot.

Nun, was kann ich weiter dazu sagen... man rettete mich und eine Menge anderer Menschen zwei Stunden später aus dem eiskalten Wasser. Mir war klar, dass ich Emily nicht wieder sehen würde und lebte fast fünfzig Jahre in dem Glauben, wenn ich nicht gewesen wäre, und wir uns nicht verliebt hätten,könnte sie... Nein, dann könnte sie nicht mehr leben, aber dann hätte sie danach noch gelebt.“

schloss ich meine Erzählung. Grabesstille. Schließlich meldete sich Guillermo zu Wort.
„Wieso hast du sie nicht verwandelt?“ fragte er und ich sah ihn stirnrunzelnd an. „Das Wasser war eiskalt, Mann. Wie hätte ich sie da verwandeln sollen? Das hätte nicht funktioniert. Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, unter anderem die Bluttemperatur.“ Als ob er das nicht wusste.
„Weiß ich doch.“ sagte er auch. „Aber was war mit vorher?“ fragte er. „Du hättest sie verwandeln können, bevor das Schiff sank. Dann hätte sie überlebt.“ Ich seufzte. „Weil sie mich nie gefragt hat. Und ich würde schon aus Prinzip niemanden verwandeln, der das nicht wirklich will.“ erklärte ich, als hinter uns die Tür aufging und eine junge Frau mit kurzem blonden Haaren herein kam. Eine Sekunde musste ich blinzeln und die Augen zusammenkneifen, damit mein Gehirn mir nicht Emily im Ballkleid vorspielte, wie sie die Treppe herunter kam. Die beiden sahen sich so ähnlich....
Dann sah die junge Frau uns und stockte. Sie sah erst mich an, dann den offenen Schrank, den Schlüsselbund in meiner Hand und zuletzt das Buch. Und dann wurde meine Vorstellung von Emily Santeros Geist in Scherben zerschlagen.
„Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“ kreischte sie und riss mir das Buch aus der Hand, den Schlüsselbund dazu und schloss alles wieder da ein, wo es her kam.
„Können Sie nicht lesen? Da steht ausdrücklich, dass man nichts anfassen darf!“
Reumütig sah ich sie an.
„Wir.... wir suchen nur jemanden.“ erklärte ich. Sie sah skeptisch aus. „Nun, dann suchen Sie am falschen Ort. Die letzte Überlebende des Unglücks starb vor ein paar Wochen im Altersheim hier ganz in der Nähe.“ Unter meinem Blick sah sie etwas besänftigt aus. „Ich hatte mich nicht vorgestellt, glaube ich.“ erwiderte ich mit sanfter, schmeichelnder Stimme, bei der Sophia mir einen Tritt vors Schienenbein versetzte.
„Vittore Fortunato. Meine Frau Giulia, und ein paar Freunde und Bekannte.“ Ich stellte Mick, Beth und Guillermo der Reihe nach vor.

„Patricia Robins, freut mich.“ sagte sie, aber es klang nicht so, als würde sie meinen, was sie sagte.
„Entschuldigen Sie...“ sagte ich dann nachdenklich. „Aber Sie erinnern mich unheimlich an meine... Großtante. Emily Santero, sagt Ihnen der Name etwas?“ Verdutzt sah sie mich an.
„Ja... das ist der Name der Schwester meiner Großtante Hannah. Sie... wurde erst nach dem Unglück geboren, wissen Sie... sie weiß davon nichts genaues. Aber ich habe mich damit beschäftigt...“ sie sah zwischen mir und der Liste hin und her.
„Deswegen wollten Sie die Liste sehen? Weil Sie wissen wollten, ob sie unter den Überlebenden...“
„Nein.“ schnitt ich sie ab. „Ich weiß,dass sie nicht überlebt hat. Ich wollte nur wissen... hat man ihre Leiche je gefunden?“
Sie dachte eine Weile nach.
„Ja.“ sagte sie dann ernsthaft. „Sie liegt zusammen mit all den anderen Opfern dieser Nacht auf dem Fairview Cementary in Halifax, Neuschottland.“
 
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