Meine Geschichten
  Eisberg voraus!
 
Und wer sich wiederfindet, über grüne Wiesen reitend,
der sollte nicht überrascht sein. Denn er ist im Elysium.
Und ist bereits tot!“

Maximus Decimus Meridius – Gladiator


„Also hast du sie nicht gebissen?“ fragte Beth neugierig nach. Ich brauchte eine Weile, bis ich wieder in die Realität zurück fand. „Nein, habe ich nicht. Zumindest nicht zu dem Zeitpunkt.“
Sie runzelte die Stirn. „Aber danach...“ fing sie an und bekam dafür von mir ein amüsiertes Glucksen. „Hör einfach weiter zu, Beth.“ Ich räusperte mich leise, um mir auch bei den Anderen Gehör zu verschaffen.

11. April 1912
Nun, ich ließ sie also stehen und biss sie nicht. Ich trank nicht ihr Blut, obwohl alles in mir danach lechzte. Ich brauchte das Blut dringend. Aber nicht ihres, so viel stand fest. Aber je mehr Zeit verging, und hätte ich gewusst, wie wenig Zeit wir zusammen hatten, hätte ich schneller gehandelt, desto mehr fühlte ich mich von ihr angezogen wie ein Stück Eisen von einem Magneten. Ich dachte bisher immer, dass mir das nie wieder so passieren würde, und doch habe ich mich getäuscht.“ Mein Blick wanderte zu Sophia, die errötete und den Blick senkte. „Nun hatte ich also diese Frau vor mir. Ich folgte ihr, so gut es ging. Denn dadurch, dass wir in zwei verschiedenen Klassen untergebracht waren, war es kaum möglich, allein mit ihr zu sein. Die Kabinen waren recht klein und boten nicht genug Platz für zwei Personen.

Am nächsten Morgen sah ich ihr wieder dabei zu, wie sie über das Deck lief, bis zum Bug, um herunter zu sehen. In den letzten Stunden hatte ich keinen Gedanken an meinen Durst verschwendet, denn je mehr ich mich darauf konzentrierte, dass ich Durst hatte, desto stärker schien er zu werden. Deshalb beschloss ich, eine Weile nicht mehr daran zu denken. Also ging ich wie schon gestern den selben Weg wie sie, so leise, dass sie mich nicht hören konnte. Neben ihr lehnte ich mich über die Reling und sie zuckte erschrocken zusammen und wäre über die Reling gefallen, hätte ich sie nicht fest gehalten.

Für einen Bruchteil eines Augenblickes zog ich sie dicht an mich heran, den Blick immer auf ihr Gesicht gerichtet. Mir war nie zuvor aufgefallen, wie strahlend grün ihre Augen waren, mit einem kleinen Stich ins bräunliche. Kleine goldene Sprenkel umrandeten die Pupille zusätzlich und schienen das Auge zu jeder Zeit leuchten und funkeln zu lassen. Sie schluckte nervös, als ich sie nicht los ließ. Es war die selbe Situation wie schon gestern gewesen und so gefiel sie mir am Besten: Wenn sich ihr Körper an meinen schmiegte.
Würden Sie mich freundlicherweise loslassen, Mr. …?“

Hastig ließ ich sie los und trat einen Schritt zurück. „Charles.“ sagte ich heiser. „Ich meine natürlich Fitzgerald. Charles Fitzgerald, freut mich, Sie kennen...“ Ich biss mir auf die Zunge, noch im rechten Augenblick registrierend, dass ich wirres Zeug plapperte.
Ich meine, es tut mir Leid, Miss Santero.“ Ich hatte noch etwas sagen wollen, da kam ein grauhaariger Mann mit Zylinder und schwarzem Frack auf mich zu geschossen.
Was erlauben Sie sich eigentlich! Meine Tochter so anzufassen, Sie...!“ wetterte er los und ich zog entgegen meiner sonstigen Neigungen den Kopf ein. Wütende Ehemänner und Väter waren nichts, mit dem ich gern längere Gespräche führte, also machte ich mich rücklings davon.
Charles, warten Sie!“ hörte ich Emily hinter mir rufen und plötzlich packte sie mich an Arm und zog mich so ruckartig zu sich herum, dass wir fast zusammenprallten. Für einen Augenblick war ihr Hals verführerisch dicht vor meiner Nase. Ich hätte bloß zubeißen brauchen und merkte, wie sich ihr eine sanfte Gänsehaut bildete, als mein kühler Atem über ihre Haut strich. Ihr Gesicht sah ich in diesem Moment nicht mehr, nur das Blut, wie es unter ihrer Haut pulsierte.

Mr. Fitzgerald? Charles?“ fragte sie nach und ich merkte, wie meine Eckzähne wuchsen. Der Blick, der sie aus meinen Augen traf, musste ihr Angst machen, denn sie presste sich erschrocken die Hände vor den Mund und starrte mich mit Schreck geweiteten Augen an. Eine Hand löste sich zitternd von ihrem Mund und sie legte sie an meine Wange, die sicherlich bleich sein musste wie die eines Toten. Denn nichts anderes war ich. Ein lebender Toter.
Was...“ fing sie an, aber ich schüttelte den Kopf und drängte sie durch eine Tür in einen leeren Raum und machte selbige hinter mir zu.
Nicht dort draußen.“ zischte ich und wechselte mein Aussehen wieder zum normalen. Meine Augen nahmen ihr übliches Braun wieder an, mein Gesicht bekam wieder Farbe und die Zähne schrumpften auf die gewohnte Länge.

Was ist denn passiert? Sind Sie... krank? Soll ich den Schiffsarzt rufen?“ fragte sie nach und verschränkte die Hände vor sich, bevor sie weg sah. Hatte ich Sekunden zuvor noch ihren Blick gefesselt, wirkte sie jetzt erschreckt, ja verängstigt. Ich lachte rau. „Der kann mir auch nicht mehr helfen.“ sagte ich und sie sah mir wieder in die Augen. „Verstehen Sie jetzt, Emily? Warum ich nicht bei den Mahlzeiten dabei sein kann? Warum ich mich lieber im Schatten aufhalte? Warum... meine Zähne...“ jetzt war es an mir, weg zu sehen, aber mehr aus Scham denn aus Angst. Ich schämte mich, so zu sein, wie ich war. Ich schämte mich, ihr so gegenüber zu treten. Ich sah, wie sie schluckte, hörte, wie sie zitternd ein und ausatmete. Halb erwartete ich, dass sie sich umdrehen, raus stürmen und es jedem erzählen würde. Dass ich ein Monster war. Das tat sie nicht. Sie legte nur die Hand an mein Gesicht und sah mir tief in die Augen. „Sie sind... ein Vampir.“ das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Und obwohl das finstere Mittelalter schon lange hinter uns lag und mich hier auf dem Schiff sicher niemand mit Fackeln und Mistforken verfolgen würde, war meine Angst immer noch nicht gezähmt.

Ich nickte zögernd. „Ja. Das bin ich.“ gab ich zu und senkte den Blick. „Bitte, Sie dürfen niemandem erzählen...“ Immer noch sah ich sie nicht an, aber sie zwang mich dazu, indem sie mir das Kinn nach oben drückte. „Ich werde sicher nicht zum Kapitän rennen und es dem erzählen, oder Mr. Ismay, oder...“
... Mrs. Brown.“ führte ich leise zu Ende. Zu meiner Überraschung lachte sie. „Nein, ihr erst recht nicht. Das bleibt unser kleines Geheimnis.“ flüsterte sie und zwinkerte mir zu. Ich lächelte scheu und räusperte mich dann. Aber ich brachte kein Wort über die Lippen. Sie zu bitten, mich von ihr trinken zu lassen, jetzt, wo sie mein Geheimnis kannte, kam nicht in Frage.

Haben Sie... hast du Hunger? Oder Durst, wie immer ihr sagt...“ fragte sie nach. Ich zögerte einen Moment. Mein Verstand wollte nicht glauben, dass sie mir gerade anbot, von ihr zu trinken. Von sich aus. Und nicht, weil ich sie darum bat. Einen Moment war ich versucht zu verneinen, aber es würde nichts bringen. Länger als eine Woche übersteht kein Vampir ohne Nahrung ohne wahnsinnig zu werden, und ich wusste nicht, wie lange wir unterwegs sein würden. Schließlich nickte ich. Zögernd sah sie mich an.
Wie... wie geht so etwas vor sich?“ fragte sie und ich las Angst in Ihren Augen. Nachdenklich biss ich mir auf die Lippe.
Ich werde dich beißen müssen.“ erklärte ich dann schlicht. „Es kann etwas weh tun, aber ich bin vorsichtig.“ Sie sah an sich herunter. Wie selbstverständlich nahm ich ihren linken Arm und drückte sie tiefer in den Schatten. Ich würde aufpassen müssen, dass niemand herein kam, während ich trank.

Dann ließ ich den Vampir in mir vollends zum Zuge kommen und senkte ihr die Zähne in den Unterarm, an einer Stelle, die sie noch mit einem langärmeligen Kleid oder einem Tuch würde überdecken können. Der Hals war zwar meine Lieblingsstelle, aber es wäre zu auffällig gewesen. Sie keuchte beim Biss erschrocken auf und wollte sich im Reflex losreißen, doch ich hielt sie eisern fest und versuchte ihr das Gefühl zu geben, sicher zu sein. Ihr gedanklich zu sagen, dass ich nicht zu viel trinken würde. Alles, was ihr passierte, als ich die Zähne wieder aus ihrem Arm zog war, dass sie ein bisschen wacklig auf den Beinen war und ich sie stützen musste. Ich reichte ihr ein Taschentuch, dass sie auf die Wunde drückte, bis es aufhörte zu bluten.

Werde ich jetzt auch so wie du?“ fragte sie nach und ich lachte. „Nein, wirst du nicht, keine Sorge.“ Sie sah mich stirnrunzelnd an, während ich zur Tür ging und hinaus spähte, ob uns auch niemand sah. Dann erst machte ich die Tür auf und ging nach ihr ins Sonnenlicht. „Wie das funktioniert, erkläre ich dir ein anderes Mal.“ Ein Stück voraus erblickte ich ihren Vater schneller als sie. „Und jetzt solltest du gehen. Sage ihm nicht, was du gesehen und erlebt hast, bitte. Das muss geheim bleiben!“ flüsterte ich noch einmal eindringlich. Sie nickte nur und huschte zu ihrem Vater. Selbst von meinem Standort konnte ich sie lautstark streiten hören und sah, welchen Blick der Mann mir zuwarf.

*


Es dauerte zwei Tage, dann war ich mir sicher, mich in sie verliebt zu haben. Ironisch, dass es  bis dahin noch zu keinem einzigen Kuss zwischen uns kam. Ich wusste, dass es zu gefährlich war, wenn wir uns weiter trafen. Nicht nur wegen ihres Vaters, sondern auch wegen meiner Neigung. Ich wollte sie nicht mehr als nötig in Gefahr bringen und mit jeder Stunde, die wir zusammen verbrachten, tat ich genau das. Ich brachte sie in Gefahr auch wenn ich das gar nicht wollte, und das machte mir Angst.
Aber da wusste ich noch nicht, dass nicht ich es sein würde, der sie mal in noch größere, tödlicher Gefahr bringen würde. Nicht mal ein Mensch würde es sein. Das war ich zwar auch nicht mehr, aber je länger wir zusammen waren, desto weniger macht mir das etwas aus. Ihr machte es erst recht nichts, denn sie akzeptiert mich, so wie ich war und stellt keine Fragen. Gott, ich klinge klischeehaft, oder? Aber genau so ist es gewesen. Es war der Abend und die Nacht des 14. Aprils, die alles verändern sollten.

Sonntag, 14. April 1912, kurz vor 19 Uhr
Wir saßen gerade beim Abendessen. Die übliche Tischrunde der ersten Klasse, nur ich konnte nun wirklich nichts essen. Zumindest nicht das, was die Personen um mich herum in sich hinein stopften. Ein weiterer Punkt, den ich bemängelte war das Fehlen von Emily. Jede Sekunde, die sie nicht bei mir war, war wie körperlicher Schmerz. Vielleicht könnt ihr euch das nicht vorstellen, aber in dem Moment, in dem ihr das Blut einer Person trinkt, geht ein Stück von ihr in euch ein. Vielleicht könnt ihr dann nicht ihre Gedanken lesen, aber sie zumindest ein bisschen besser verstehen. Ich spürte, dass diese Sehnsucht nach dem jeweils anderen auf Gegenseitigkeit beruhte, nur leider machte es uns die Klassentrennung auf dem Schiff nicht möglich, zusammen zu speisen. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinne.

„Nun, Mr. Ismay, ich hörte, die Titanic soll es ihrer großen Schwester nach tun und unsinkbar sein? Zumindest ist es das, was die Zeitungen erzählten, ehe das Schiff ablegte.“ erklärte Molly Brown interessiert. Ich sah Ismay einen Blick mit Kapitän Smith und Thomas Andrews tauschen.
„Ich bitte Sie, liebste Molly, beschwören Sie bitte kein Unglück herauf.“ flüsterte Andrews eindringlich quer über den Tisch. „Wir wollen auf keinen Fall, dass es so endet wie bei der Olympic.“ Man sah ihm an, dass ihn der Gedanke an die Kollision mit einem anderen Schiff ein paar Tage zuvor immer noch schmerzte. Laut dem, was ich wusste lag die Olympic nach diesem Unfall immer noch im Trockendock.
„Nun... es scheint unwahrscheinlich, dass so etwas ein zweites Mal eintreten wird, wo doch hier kein Schiff in der Nähe ist, mit dem wir kollidieren könnten.“ erklärte Smith. Er war ein freundlicher, aber schweigsamer Mann, und ich mochte ihn. „Das war ein bedauerlicher Unfall, Ladies und Gentlemen, aber es war eben nur ein Unfall.“
Ich legte meine Serviette ordentlich gefaltete neben meinen Teller. „Wirklich? Ich habe sagen hören, es soll ein Fluch auf dem Schiff liegen.“ ließ ich wie beiläufig fallen.
Scheinbar desinteressiert ließ ich den Blick über meine Tischgenossen schweifen, die mich ausnahmslos bestürzt anstarrten.
„Ich bitte Sie, guter Mann, das ist ausgemachter Humbug.“ erklärte Smith energisch. „Ich gebe zu, das der Unfall unter meiner Führung geschah und dass mir jetzt dieses Schiff anvertraut wurde, rückt mich nicht gerade in ein gutes Licht, aber das heißt noch lange nicht, dass...“
„Nun, aber finden Sie nicht, Kapitän, dass der Begriff „unsinkbar“ nicht mit etwas verknüpft werden sollte, dass...“ unterbrach ich ihn laut, „von Menschenhand gebaut ist?“ Ungläubig starrte er mich an.
„Guter Mann, malen Sie bitte nicht den Teufel an die Wand!“ flüsterte er eindringlich und ich hielt zum Wohle der Tischgesellschaft meinen Mund. Ich hob nur schweigend mein Weinglas zu einem Toast.
„Ein Hoch auf das Wunder der Technik!“ rief ich fröhlich aus und leerte das Glas in einem Zug.

Sonntag, 14. April 1912, kurz nach 23 Uhr
Draußen war es schon lange dunkel. Die Nacht war klar, keine Wolke am Himmel, die See war ruhig und die Sterne funkelten auf uns herunter, als ich mich aus der Gesellschaft der Männer des Raucherzimmers stahl und noch etwas an die frische Luft ging. Ich hörte Schritte hinter mir, drehte mich aber nicht um. Diesen Tritt kannte ich so gut wie sonst keinen. In nur drei Tagen war es mir gelungen, ihn mir so gut einzuprägen wie sonst nur meinen. Auch ohne meinen guten Geruchssinn wusste ich, wer dort kam.
„Na hattet ihr in schönes Dinner, Mylady?“ fragte ich lächelnd und legte ihr die Arme um die Hüfte. Es war kalt in dieser Nacht, eiskalt. Und sie trug nur ein Kleid und einen Schal, den sie sich um die Schultern geschlungen hatte. Meine scharfen Augen registrierten sofort die Gänsehaut, die sich auf ihren Armen gebildet hatte.

„Ist dir kalt?“ sprach ich das Offensichtliche an. Sie schüttelte nur den Kopf und sah stumm auf die See hinaus. „Nein. Es geht mir gut, es ist nur... du solltest wissen, dass...“ Sie seufzte tief und sah dann zu mir auf.
„Es ist nicht gut, wenn wir und weiterhin sehen. Mein.... mein Vater findet es nicht... schicklich. Ich sage nur, was er gesagt hat, ich meine, du solltest wissen, dass ich dich sehr mag, aber leider nicht mehr daraus werden kann, also...“ wieder ein Seufzen. Diese Worte kamen nicht von ihr, und das sagte ich ihr auch ins Gesicht. „Plapperst du immer nach, was dein Daddy dir in den Mund legt?“ fragte ich zynisch und sie sah mich erschrocken an.
„Nein... wie... wie kannst du denken, ich würde nur nachsagen, was er...“ Ich schüttelte den Kopf und wandte mich ab.

„Vergiss es. Ist nicht so wichtig.“ murmelte ich und ging noch ein Stück. Sie folgte mir nicht.
„Bin ich dir so wenig wert? Das alles, die letzten Tage, war nicht wichtig? Dass ich dich gefüttert habe... bedeutet dir das nichts?“ Und dann – und ich sage euch, in der Hinsicht seid ihr Frauen alle gleich – fing sie an zu weinen. Seufzend ging ich zu ihr zurück.
„Ich will nicht sagen, dass ich deine Gesellschaft nicht genossen habe. Das wäre eine Lüge und darin bin ich... nicht sonderlich gut.“ War ich schon, wie man gerade merkte.
„Aber wer könnte eine bessere Partie für dich sein als ich? Jemand aus der dritten Klasse? Ein irischer Emigrant ohne Papiere? Ein von diesen räudigen Ratten, die in Etagenbetten neben dem Heizraum schlafen?“ Ich wurde mit jedem Wort lauter. Sie senkte nur weinend den Kopf.
„Bitte hör auf. Hör auf. Du verstehst das nicht. Mein Vater... in New York... wenn wir dort ankommen, wird dort jemand auf mich warten. Ich werde ihn heiraten, ihm eine gut Ehefrau sein und...“
„... einen Haufen bildhübscher kleiner Buben mit deinen Grübchen und Mädchen mit blonden Locken zur Welt bringen, schon klar. Diese niedlichen kleinen Dinger, die riesige, klebrige Gebilde aus Zucker lutschen und in Matrosenanzügen und Spitzenkleidchen stecken und denen Mama in die Wange kneift und ihnen sagt wie süß sie doch aussehen. Schon verstanden. Da ist kein Platz für ein blutsaugendes Monster, dass all dein Geld will und sich dann damit aus dem Staub macht.“ Sie weinte heftiger. Fast hätte ich meinem Drang nachgegeben und sie in den Arm genommen, aber verletzter Stolz siegte über Fürsorge und das Bedürfnis, Trost spenden zu wollen.

„Warum bist du so...“
„Verbittert? Weil du von Anfang an hättest sagen können, wie deine Situation ist. Du hättest zu mir kommen können und sagen können: „Charles, ich finde es ungemein schmeichelnd von Ihnen, dass Sie meine Unschuld bewahren wollen, aber leider bin ich reserviert.“ Mehr hättest du nicht sagen brauchen. Ich bin sicher, ich hätte dich verstanden. Aber nun...“ schloss ich und senkte den Kopf. Sie drückte mir das Kinn nach oben und sah mir in die Augen.
„Ich will nur wissen, ob du es ehrlich mit mir meintest. Hast du niemanden in New York, der auf dich wartet? Jemand, dem du versprochen bist?“ fragte sie. Ich schüttelte den Kopf.
„Da ist niemand. Da bist nur du.“

Sonntag, 14. April 1912, 23.35 Uhr
Sie sah mich groß an, dann senkte sie den Kopf. Ich merkte, wie ihr ganzer Körper zitterte, so als stünde sie unter Strom, dabei weinte sie. „Charles, bitte. Ich habe dir doch erklärt...“ Ich nickte. „Ich weiß. Und es ist okay. Ich meine... sein wir einfach Freunde, dann...“ Ihr Kopf schoss hoch. „Mein Vater würde...“ fing sie an, aber ich legte ihr einen Finger auf die Lippen.
„Nein, nein. Lass mich dir zeigen, wie ich das meine.“ murmelt ich und kam ihr mit dem Kopf ein Stück entgegen. Dann hielt ich inne, meine Nase nur ein paar Millimeter vor ihrer und wischte mit dem Zeigefinger die Tränen an ihren Wimpern weg.
„Ich möchte nicht, dass du meinetwegen weinst. Lächele, sei fröhlich, aber weine nicht. Man soll das Leben genießen, solange man es hat.“ sagte ich und tatsächlich entkam ihr ein ziemlich weinerliches Glucksen.

„Das sagt jemand, der die Ewigkeit noch vor sich hat. Sag Charles, wie alt bist du eigentlich? Ich meine, wirklich.“ Mein Gesicht kam ihr noch ein bisschen näher. Dass sie nicht auf der Stelle alle Fragen vergaß, die sie mir stellen wollte, war auch schon alles. Ich konnte jede Sommersprosse, jedes Haar an ihren Wimpern zählen, als ich meinen Kopf ein wenig zur Seite beugte, dabei nie den Blick aus ihren Augen verlierend. Wie es wohl war, sie zu küssen? Außer den beiden Männern, die im Krähennest Dienst hatten, würde uns schon niemand sehen. Emilys Vater schlief friedlich in seiner Kabine. Die Nacht war wie geschaffen für einen Kuss unter Liebenden.
Vorsichtig legte ich meine Lippen auf ihre, dabei immer um Beherrschung flehend. Immerhin schaffte ich es, dass sie nicht schreiend weg rannte oder umfiel und war gerade dabei, den Kuss so richtig zu genießen. Ich drückte ihren schmalen Körper an mich – erwähnte ich, dass sie wie geschaffen in meine Umarmung passte? - und drückte sie dabei mit dem Rücken ein Stück gegen die Reling, während sie eine Hand in meinem Haar vergrub und mich an sich zog. Es war kurzum alles nach meinem Geschmack, als ein Ruf aus dem Krähennest scholl.

„Eisberg voraus!“ Vielleicht erlaubten sich die beiden da oben einen Scherz mit uns, um uns zu stören. Kurz dachte ich daran, hoch zu klettern und den beiden die Meinung zu sagen, als die Schiffsglocke dreimal laut klingelte.
Sekundenlang passierte gar nichts, dann wendete das Schiff plötzlich. Nervenaufreibend langsam. Ich lehnt mich über die Reling, um zu sehen, was los war. Dann wurden wir langsamer. Immer und immer langsamer. Neben uns ragte ein Gebilde aus Eis aus dem Wasser und ich sprang zurück und riss Emily mit mir. Brocken gefrorenen Wassers regneten auf uns herab, dann schien es vorbei zu sein. Wir fuhren wieder und ließen den Eisberg hinter uns.
„Das war aber ganz schön knapp.“ murmelte ich und stieß die angehaltene Luft aus. Dann wandte ich mich zu Emily um. „Also, wo waren wir stehen geblieben?“

Montag, 15. April 1912, 0.05 Uhr
„Bringst du mich noch auf mein Zimmer?“ fragte Emily lächelnd. Ich konnte nicht anders, ich lächelte ebenso, obwohl uns beiden noch der Schock über die Katastrophe der wir – wie wir alle glaubten – knapp entronnen waren noch in den Knochen steckte. Ich begleitete sie noch bis zu ihrer Kabine und bekam als Dankeschön noch einen Kuss. Ach, könnte die Welt nur jeden Tag so sein...
Im Anschluss daran suchte ich meine eigene Kabine auf. Nur Minuten später klopfte es und ich stand von dem Bett auf, auf dem ich gelegen hatte und machte auf.
Thomas Andrews höchst persönlich stand vor der Tür.
„Mr. Fitzgerald, Sir. Sie werden gebeten, Ihre Rettungsweste anzulegen.“ Ich runzelte die Stirn.
„Gibt es ein Problem, Sir?“ fragte ich und nahm besagte weiße Weste vom Schrank um sie mir über zu streifen.
„Ein reines Routinemanöver, kein Grund zur Sorge.“ erwiderte er ruhig. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Wenn Sie das so sagen, mache ich mir Sorgen.“ flachste ich. Wäre ich doch ernster gewesen. Er ging wieder und weil ich neugierig war, folgte ich ihm lautlos wie ein Schatten. Noch war alles ruhig, aber das sollte nicht mehr lange so bleiben. Hinter einem Pfeiler und einer Topfpflanze gut getarnt, beobachtete ich Andrews, Ismay und Smith, wie sie an einem Tisch standen, einen Plan vor sich ausgebreitet.
„So, wie ich das sehe, befindet sich der Schaden größtenteils in den vorderen Schotts, den Kesselräumen und den Frachträumen. Wenn wir Glück haben, ist der Schaden nur sehr gering, aber einige der Arbeiter berichteten, dass bereits recht viel Wasser eingedrungen ist.“ hörte ich Ismay leise sagen. Näher heran traute ich mich nicht, aber das musste ich Dank meinem Gehör auch nicht.

„Ist es möglich, die Flutung noch zu stoppen?“ fragte Smith. Andrews sah ihn lang an. „Kapitän, Sie selbst wissen, wie dieses Schiff konzipiert ist. Ich hege noch Hoffnung, dass nicht alle Abteile volllaufen, das gibt uns eine Chance, weiter zu fahren. Wenn nur drei oder vier Abteile volllaufen, kann sie sich noch über Wasser halten, vielleicht auch noch bei fünf, aber nicht bei sechs.“ gab er bedauernd zu.
Ismay starrte ihm an.
„Was wäre das schlimmste, was uns passieren kann?“ fragte er. „Nun, wie Sie sicher denken können, kann es sein, dass das Schiff untergeht. Dass es sinkt.“ erklärte Andrews. Jetzt war es an Smith, nichts zu sagen und zu starren.
„Sie selbst sagten, selbst Gott könnte das Schiff nicht versenken!“ gab er zu bedenken und Andrews seufzte. „Dieses Schiff wurde aus Eisen gebaut, Herr Kapitän. Ich versichere Ihnen, sie kann. Und sie wird.“ Langes Schweigen folgte ob dieser Äußerung, bis schließlich Smith schluckte.
„Wir sollten das vorerst für uns behalten. Ich möchte keine unnötige Panik auf meinem Schiff.“ sagte er und die drei trennten sich und gingen ihrer Wege, plötzlich seltsam unsicher. Ich schob mich hinter der Pflanze hervor und ging zurück in meine Kabine. Wie der Kapitän gesagt hatte. Das war nur Theorie. Nichts, worum man sich Sorgen machen müsste...


 
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