Meine Geschichten
  Durst
 
Viel Schlaf bekam Ben in dieser Nacht nicht. Was hatte der Kerl bloß gemeint? Das ging ihm immer und immer wieder im Kopf herum. Während er sich unruhig von einer Seite auf die Andere warf, deckte er sich auf, denn es war warm, selbst bei offenem Fenster. Durch das mit Fliegengitter bespannte Fenster kam kaum einmal ein Lüftchen bis zu ihm und wenn, dann war es genau so warm wie die abgestandene und schweißdurchtränkte Luft seines Zimmers. Irgendwann reichte es ihm und er stand auf. Barfuß tappte er über Teppich, Fliesen und Parkettboden seines Hauses bis in die Küche. Ein kalter Trunk würde ihm sicher helfen wieder einzuschlafen. Seine Frau wollte er nicht wecken, sie hatte auch so schon genug Stress.
Er betrachtete eine Weile den am Kühlschrank angebrachten Kalender. Dieser hier war ein Model, in das man Fotos kleben konnte, für jeden Monatstag eines und genau das hatten sie ausgiebig getan. Abwesend blätterte er den Kalender durch, nicht etwa auf der Suche nach etwas Bestimmten, einfach so. Er sah jedem einzelnen Kalenderblatt beim Fallen zu.

Das Blatt für diesen Monat war gerade gefallen und er sah auf die Uhr. Mitternacht. Geisterstunde. Er konnte ein kleines Schnauben und ein amüsiertes Grinsen nicht ganz unterdrücken. An was die Menschen nicht alles glaubten...
Er zog den Kühlschrank auf und betrachtete dessen Inhalt. Obstsaft, Bier, Wasser, Kalter Tee. Da konnte er gleich Kloreiniger schlucken, aber mit einem etwas anderen Effekt, als vielleicht gewünscht. Nach kurzem Zögern entschied er sich für Mineralwasser. Aus dem Schrank über der Spüle nahm er ein sauberes Glas und betrachtete kurz sein Spiegelbild in der Glastür der Mikrowelle. Tiefe Schatten unter den Augen, das konnte auch das dunkle Glas nicht verdecken. Die Bartstoppeln waren schon ein paar Tage alt und kratzen beim Darüberstreichen. Seine Frau neckte ihn jedes mal deswegen, aber er empfand nur noch mäßigen Enthusiasmus beim Anblick von Rasierer und Pinsel.

Er schüttelte den Kopf und machte den Kühlschrank zu. Zischend sprudelte das Getränk aus der Flasche, als er den Verschluss aufdrehte und übergoss Ben. Er fluchte unterdrückt. Das machte die Sache nicht gerade besser. Immerhin, dachte er, war es nur Wasser und keiner von den eiskalten Fruchtsäften, die noch im Schrank standen. Aber jeder wusste doch, das Zucker einen aufgedreht machte. Da würde er dann erst recht nicht schlafen können.
Andererseits versprach das unerwartete verspritzen des Sprudels auch eine leichte Abkühlung. Vielleicht sollte er sich doch die Flasche über den Kopf kippen und wieder schlafen gehen... Kurz entschlossen ging er zum Küchentisch, stellte das Glas darauf ab und goss den Inhalt der kleinen Flasche hinein,
Er trank einen tiefen Schluck. Die Kohlensäure war ein Ansturm von eiskalten Nadeln in seiner Kehle und er schloss eine Weile die Augen, bevor er den nächsten, vorsichtigeren Schluck nahm. Er stellte das Glas weg und sah, wie das Kondenswasser am Glas entlang Richtung Tischplatte lief und am Glas feine Streifen hinterließ.

Ben rieb sich müde durchs Gesicht. In letzter Zeit hatte er wieder denselben Traum. Er war in einem Raum mit Beth. Es war angenehm kühl und es roch ein bisschen nach Krankenhaus. Natürlich wusste er, wo dieser Raum war. Damals war er mit Beth und Mick St. John bei diesem Anders gewesen wegen der Schönheits-OPs, die dort schief gelaufen sein sollten. Bis heute hatte er nicht aufklären können, was genau es damit auf sich hatte, aber da Anders und seine Kollegen wenig später spurlos verschwanden, machte man sich nicht die Mühe, die Sache weiter zu verfolgen. Ihn beschäftigte sie dennoch. Er war in diesem Raum gewesen, an Beth gefesselt und er konnte nichts sehen, weil man ihm mit mehreren Lagen Verbandsmull die Augen verbunden hatte. Losreißen konnte er sich auch nicht, denn das schien eine Art Gummischlauch zu sein, der einfach nicht nachgab.
Und dann war da dieses unheimliche Zischen, Kreischen und Fauchen gewesen, Glas war gesplittert und Knochen knackten. Und dann diese völlig weltfremde Stimme, die klang, als käme sie aus einem Roboter.
Zumindest bei einem der beiden Männer, die ihm und Beth an diesem Tag das Leben gerettet hatten, wusste er, um wen es sich handelte. Das war Mick St. John gewesen, der Mick St. John, der nur wenige Monate später ebenfalls spurlos verschwand. Und dann noch die Bemerkung des Officers heute Mittag... Dass er Menschen aussagte... Waren das am Ende Freaks, diese beiden Männer auf den Fotos? Eine Sekte? Ein ritueller Zirkel? Er hatte doch dort so einen Fall gehabt... erst vor einem Jahr.

Mit seinem Glas in der Hand erhob er sich vom Küchentisch und ging zur Tür. Er löschte das Licht und schlich auf Zehenspitzen ins Arbeitszimmer, wo er den Computer hochfuhr. Nach ein paar Minuten des Suchens hatte er es gefunden.
Staatsanwalt Josh Lindsay hatte den Fall bearbeitet. Eine Gruppe von Hearst-Studenten, die glaubten, sie seien Vampire. Und einer der Lehrer, der Blut trank und von sich selbst sagte, er sei eine Kreatur der Finsternis. Ben schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nun wirklich nicht...
Vampire gab es schließlich nicht. Das waren Schauermärchen. Vollkommener Blödsinn. So etwas erzählte man Kindern, die nicht schlafen wollten. Das war Stoff für Fantasyromane und Horrorfilme.
Trotzdem konnte er nicht umhin, das Stichwort 'Vampir' in seinen Browser einzutippen. Er bekam eine ganze Menge an Ergebnissen, von Rollenspielen über Onlineshops oder Sektenseiten. Bis er auf etwas stieß, das man wie ein Lexikon lesen konnte und das sicherlich wie Eines gedacht war.

Das Problem was er hatte war nur, er hatte keinen Beweis, dass Mick und dieser Andere wirklich Vampire waren. Immerhin hatte er sie nie als Solche gesehen und auch nichts auffälliges wahrgenommen.
Mit dem Gewissen, dass er sicher nur halluzinierte und er sich besser über andere Dinge Gedanken machte, wollte er den Schreibtisch nach dem Herunterfahren des PCs wieder verlassen, als sein Blick auf die Liste fiel, die er vor Monaten erhalten hatte. Dort stand auch der Name Mick St. John und die vieler anderer reicher und angesehener Leute in LA. Nur zu was war diese Liste nütze? Und wieso erhielt gerade er sie, noch dazu anonym? Jetzt erinnerte er sich, dass auch auf Jenks' Schreibtisch eine solche Liste gelegen hatte. War es die Gleiche oder eine Andere gewesen? Und hatte Jenks ihn etwa angelogen, als er ihm das mit der Truppenübung auftischte? Aber sicherlich würde er nicht mehr dort hin zurückkehren, um es heraus zu finden. Das ganze Gebäude war ihm unheimlich gewesen. Es hatte so einen kalten, kahlen Anstaltseindruck gemacht, wie es zu Gefängnissen oder Nervenkliniken passte. Oder zu Krankenhäuser. Er schluckte unwillkürlich. Immerhin war ihnen nichts passiert bei diesem Vorfall damals. Aber es hätte auch ganz anders kommen können.

Für heute, beschloss Talbot, war es genug gewesen. Nun war er auch schon sichtlich müder und durch die weithin offenen Fenster wehte kühle Nachtluft herein. Er sah erneut auf die Uhr. Hatte er wirklich eine ganze Stunde mit unsinniger Recherche über Vampire verbracht? Er schüttelte ungläubig den Kopf und trollte sich ins Bett.
Er wusste ja nicht, was ihn noch alles erwarten sollte...

*

„He, Siebenschläfer, raus aus den Federn!“ Jemand rüttelte unsanft an meiner Schulter und ich knurrte und öffnete ein Auge, um meinem Wecker einen Blick zu werfen, der ihn auf der Stelle hätte töten sollen, wenn er das nicht schon war. Micks blaue Augen funkelten mich belustigt an und ich erhob mich von dem einigermaßen kalten Boden.Im Osten ging schon die Sonne als orangerot glühender Ball auf und es würde sich nur um Stunden handeln, bis dieses Buschland wieder die glühende Bratpfanne von gestern war. Ich sah mich um. Die Anderen standen schon und warteten scheinbar nur noch auf mich. Jetzt wusste ich auch, was mir gefehlt hatte. Sophia hatte nicht mehr neben mir gelegen, als Mick mich wach gemacht hatte.
„Ich war schon etwas früher wach, als du.“ lachte sie fröhlich und küsste mich. Ich schnurrte leise. Kaum war ich ganz auf den Beinen, lief Lance auch schon los. Mick überdeckte noch die Reste unseres Lagerfeuers mit den Zweigen einen trockenen Strauches, dann rannte er uns hinterher.
„Na, hast du wenigstens etwas geschlafen?“ fragte er im Laufen. Das strengte ihn noch nicht an. Noch. Aber wie lange würde das noch so bleiben? Wir hatten nichts zu trinken, Schatten gab es hier auch nur mäßig.

Ich seufzte und beschleunigte ein bisschen, dabei Mick und Sophia sowie Beth hinter mir lassend, um zu Lance zu gelangen.
„Was meinst du, wie lange brauchen wir noch bis zu diesem Fluss?“ fragte ich im Gehen und er beschirmte wie schon gestern die Augen mit der Hand und sah voraus.
„Heute sollten wir dort ankommen, am frühen Abend.“ meinte er nicht gerade gesprächig und ich trollte mich wieder nach hinten. Wäre das ein Rennen, ich hätte gesagt, Lance hatte mehrere Längen Vorsprung vor uns allen. Er lief voraus und wir Anderen folgten in beträchtlichem Abstand. Logan, Guillermo, Ryder und Mick tuschelten die ganze Zeit über etwas. Ich wollte es nicht genauer verstehen. Das ließ mich mit den beiden Frauen allein.
Angenehme Gesellschaft, keine Frage. Wäre da nicht der Durst gewesen und die Angst, jeden Moment die Beherrschung zu verlieren, ihnen die Zähne in die Kehle zu bohren und ihren Lebenssaft in mich zu saugen, wie ein Verdursteter den Nektar einer Südfrucht.

Es war nun einmal so, wenn ein Vampir dehydrierte, brauchte er etwas zu trinken, nicht anders, als ein Mensch. Aber gerade jetzt verfluchte ich unsere angeborene Wahl der Nahrung zum Himmel. Immerhin war zumindest eine der beiden möglichen Kandidaten für eine Blutspende seit sehr kurzer Zeit meine Frau. Und ich hatte mir geschworen nie, aber unter keinen Umständen von ihr zu trinken. Bei Beth sah das schon anders aus. Ich war sicher, sie würde nur zu bereitwillig den Arm hinhalten. Aber sie könnte uns nicht alle satt machen. Nicht mal sie Beide zusammen würden uns allen genug Blut geben, um satt zu werden. Ich wusste nur, dass es einer früher oder später versuchen würde. Wir waren wie Hirten einer mickrigen Schafherde, eingekreist von hungrigen Wölfen, die sich noch dazu unsere Freunde schimpften. Was für ein Paradoxon der Natur.

So schien es Stunden zu gehen. Wohin man blickte, ausgedorrtes Buschwerk, trockener, betonharter Boden und Sonne, Sonne, Sonne. Selbst die Sonnenbrillen halfen nicht mehr viel. Sophia stützte mich ein gutes Stück, weil ich immer wieder taumelte. Mick, der selbst kaum noch aufrecht laufen konnte, schleifte Logan hinter sich her, der schon zweimal umgekippt war. Ihm setzte die Sonne hier draußen noch an meisten zu. Schließlich verließ er so gut wie kaum seinen Keller und war Sonneneinstrahlung kaum noch gewöhnt. Schon gar nicht in dieser Menge.
Ich warf einen Seitenblick auf meinen Freund. Sein Gesichtsausdruck war verbissen, aber ab und zu strauchelte auch er. Lance sah aus, als könne ihm das alles nichts anhaben, er lief immer noch aufrecht vor uns her, schwankte nicht einmal, brach nicht in die Knie, wie wir Anderen. Wahrscheinlich wollte er keine Schwäche zeigen und erzeugte damit genau den gewünschten Effekt, zumindest bei mir. Ich bewunderte ihn. Und ich biss mir gedanklich die Zunge dafür ab. Sicher war das so gewollt. Wir, das nieder Fußvolk, sollten ihn, den König, bewundern. Ich biss die Zähne zusammen und grollte kurz. Meine Knie zitterten und wären unter mir weggebrochen, hätte Sophia mich nicht gehalten.

Hinter mir gab es einen dumpfen Aufprall und der ganze Zug kam zum Stehen. Ryder lag auf dem Bauch im Staub, das Gesicht in den steinharten Boden gepresst, und rührte sich nicht. Ich wand mich unter dem Arm durch, den Sophia mir um die Schultern gelegt hatte und ging zu ihm zurück.
„He, von Schlafen war aber nicht die Rede. Na komm.“ Ich legte einen seiner Arme um meinen Hals und lief ein Stück, aber er arbeitete gar nicht mit. Fast hätte ich so obszön geflucht, das sich wahrscheinlich die Sonne Wolken zum verstecken gesucht hätte, aber dann hievte ich den bewusstlosen Vampir nur ein Stück höher und legte ihn mir über die Schulter wie einen Sack Mehl.
Ich kam nur langsam wieder in den Trott und lief jetzt in der Mitte der kleinen Gruppe. Lance schien das Ziel zu haben, den Fluss um jeden Preis in einem einzigen Gewaltmarsch zu erreichen, aber kaum einer von uns hatte die Kondition dazu.
Sophia lief auf der Seite, auf der ich mir Ryder über die Schulter gelegt hatte ziemlich dicht bei mir. Zu dicht. Scheinbar antrieblos rutschte sein Kopf von meiner Schulter, doch dann sah ich, das dort noch Leben in ihm war und er das nutzen wollte, um Sophia mit den schon deutlich sichtbaren Eckzähnen zu nahe zu kommen. Rücksichtslos stieß ich zuerst meine Frau ein Stück weg, dass sie in den Staub rollte, dann warf ich Ryder mit einer Schulterrolle von mir, dass er auf den betonharten Boden aufschlug.
Beantwortet wurde das Ganze von einem tiefen Knurren nicht nur aus meiner, sondern noch aus drei anderen Kehlen. Logan war plötzlich wieder wach, ebenso Ryder. Auch Guillermo hatte die Zähne gefletscht und fauchte wütend.
„Was sollte das, Mann? Was hat er dir getan?“ fragte er und leckte sich über die spitzen Zähne, den Blick begehrlich auf Sophias Kehle gerichtet.

Mick und Lance stellten sich mit mir schützend vor die beiden Frauen. Keiner von uns wusste, wie lange dieses Frontenverhältnis anhalten würde. Wir alle waren rasend vor Durst, das leugnete keiner. Es kam nur darauf an, wer sich besser beherrschen konnte und aus welchem Grund. Warum Lance auf unserer Seite war, verstand ich nicht wirklich. Er würde schon seine Gründe haben. „Hast du nicht gesehen, dass er versucht hat, Sophia zu beißen? Meinst du, ich lasse das zu?“ knurrte ich und bleckte die Zähne. Mein Kopf ruckte bei diesen Worten in Ryders Richtung, der sich langsam wieder aufrappelte, die Augen ebenso eisblau wie die Anderen.
„Ich habe einfach nur verdammten Durst. Wir alle haben Durst. Und ihr... ihr sitzt auf der einzigen Nahrungsquelle im Umkreis von vielleicht zweihundert Meilen und gebt uns nichts ab.“
Ich fauchte schrill und sprang ihn an, doch er wich mir aus und ich rollte durch den Sand.
„Bezeichne meine Frau noch einmal als Nahrungsquelle und ich breche dir das Genick.“ zischte ich und er fauchte schrill. Es dauerte nicht lang, bis ich ihn zu fassen bekam und mich in ihn verbiss wie ein tollwütiger Hund in einen Stock. Ich knurrte und schüttelte den Kopf ebenso wie ein solcher, während er vor Schmerz wimmerte. Sein Blut trank ich nicht. Ich wollte ihn nicht noch mehr schwächen, auch wenn alles in mir danach schrie.

Mick riss mich von ihm herunter.
„Josef, es reicht. Und ihr anderen beruhigt euch gefälligst wieder, denn wir...“ Er atmete einmal tief ein. „Bekommen Besuch.“ sagte er und deutete lächelnd in die ferne, wo durch das Dornengestrüpp eine Gruppe Männer auf uns zu kam, augenscheinlich Farmer, die hier in der Nähe ihr Land bestellten. Zu weit bis zu nächsten Siedlung konnte es nicht mehr ein.
Lance sah die Männer auch und ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Er unterhielt sich angeregt auf Spanisch mit ihnen, lullte sie ein. Das konnte er gut, seinen Opfern etwas vormachen. Das konnten wir alle gut.
„Gleich gibt’s was zu essen.“ frohlockte Logan. Synchron machten wir alle einen Schritt vor und schlossen einen Kreis um die Männer. Sophia und Beth wandten uns noch rechtzeitig den Rücken zu, um nicht sehen zu müssen, wie sechs Paar Reißzähne sich in sechs sonnengebräunte Hälse bohrten und nach langer Zeit wieder frisches Blut durch unsere Kehlen floss.
 
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