Meine Geschichten
  Unsinkbarkeiten
 
Schweigen breitete sich aus. Ich drehte mich zu den anderen herum und auch Guillermo kam neugierig herüber, um zu zu hören, dabei die Tür hinter sich schließend. Sie alle standen mit offenen Mündern vor mir, so als wäre das etwas ganz besonderes. Nun, das war es auch. Immerhin hatte nur ein kleiner Teil der Passagiere und Besatzung das Unglück überlebt und dass Gott bei mir ein bisschen nachgeholfen oder mir zumindest Starthilfe gegeben hatte, da konnte ich schwerlich etwas für, denn das hatte ich einem Mann zu verdanken, von dem ich nicht einmal wusste, wie er hieß.

Langsam gingen wir weiter. Niemand sagte ein Wort, alle warteten sie darauf, dass ich sprach. Aber ich konnte nicht. Bis wir da hin kamen, wo man die Nachbildung des Ballsaales errichtet hatte. Das brachte alles wieder zurück. Es sah so echt aus, dass ich wider besseren Wissens die Hand ausstreckte und die Täfelung der Wand berühren musste, sonst hätte ich es nicht geglaubt. Sogar die Uhr hing an der Treppe, die Rose im Film förmlich herunter schwebte, um sich mit Jack zu treffen.
Ich räusperte mich leise, um den Kloß in meinem Hals los zu werden, der sich hartnäckig weigerte, zu verschwinden und meine Stimme heiser machte. Sophia legte mir die Hand auf den Arm, aber ich war mit meinem Blick sehr, sehr weit weg,. Als ich endlich das Schweigen brach.

Wie ihr wisst, hatte ich nicht den besonnensten und ruhigsten Start in mein neues Leben. Die ersten fünfzehn Jahre waren nicht gerade angenehm. Aber selbst ein Vampir, der nicht kontrolliert wird, beruhigt sich irgendwann, stellt sich um. Dann verbraucht man weniger Blut am Tag. Es ist nicht so, dass ich mich selbst dazu gezwungen hätte, nichts zu mir zu nehmen. Das hätte die Sache nur schlimmer gemacht. Anfangs gab ich mich meinen Neigungen hin und trank so viel ich wollte und von wem ich wollte. Mein Verstand sagte mir doch, dass es richtig war, wieso sollte ich daran etwas ändern? Aber nachdem ich geschätzte hundert Mal vor Bauern mit Fackeln und Mistforken davon laufen musste, begann sich etwas in meinem Denken umzustellen. Ich wurde ruhiger. Nicht so ruhig wie jetzt, aber immerhin etwas ruhiger. Bis andere Vampire kamen und mich zähmten.

Aber all das bewahrte mich nicht davor, Amerika zu verlassen. Fast dreihundert Jahre lang zog ich umher, von Stadt zu Stadt, immer darauf vorbereitet, selbige zu verlassen, sollten die Menschen merken, was ich in Wirklichkeit war. Aber nach dreihundert Jahren in Indien, Russland, Spanien und Afrika zog es mich wieder nach Hause. Ich lebte von 1892 bis 1912 in England, nur ein paar Straßen von dem Hafen entfernt, der hier ganz in der Nähe liegt und in den am 10. April 1912 die Titanic einlief um mich und 2199 weitere Personen zurück nach Amerika zu bringen. Ich möchte ungern eitel klingen, wenn ich sage ich hätte genug Geld gehabt, um mir eine Exklusivsuite der ersten Klasse zu sichern, und doch war es genau so. Ich kaufte mein Ticket, packte meine Sachen und brach auf aus der Welt, die mir mehr oder weniger fremd war, in die Welt, die ich kannte und liebte. Nach dreihundert Jahren der Abwesenheit würde mich dort niemand mehr kennen. Sie waren alle längst tot. Vielleicht gab es Gerüchte über ein sagenhaftes Monster, dass nachts in Häuser eindringt und Kinder aus den Wiegen stiehlt oder unverheiratete Frauen verführt.

Ersteres ist komplette Erfindung. Bei zweitem... dürft ihr eure Fantasie spielen lassen. Darüber schweige ich mich aus.

Die Reise sollte schätzungsweise eine Woche dauern und uns von Cherbourgh über Queenstown bis nach New York führen. Die meisten Menschen, die an Bord gingen waren Leute, die Tickets für die erste und dritte Klasse gekauft hatten, darunter wichtige Persönlichkeiten wie Benjamin Guggenheim, Bruce Ismay oder Thomas Andrews. Das Schiff wurde – ihr wisst es sicher aus dem Film – einem Kapitän anvertraut, für den die Jungfernfahrt der Titanic die letzte vor seinem Ruhestand sein sollte. Und, wie sich nach dem Unglück herausstellte war es auch die letzte vor seinem Tod. Wir alle hielten große Stücke auf ihn, zumindest taten die anderen das, auch wenn er bei der Jungfernfahrt des Schwesternschiffes der Titanic, der Olympic, einen... nun nennen wir es Unfall verursacht hatte. Dass das Schiff dabei nicht sank, machte denjenigen, die mit der Titanic die Atlantiküberquerung wagten, mehr Mut. Unsinkbar sollten sie sein, alle beide. Die Olympic hatte bewiesen, dass sie das zu sein schien, unsinkbar, unzerstörbar. Gleiches erwartete man von ihrem Schwesternschiff. Ihr Erbauer selbst sagte: „Gott selbst kann dieses Schiff nicht versenken.“ Und er wurde ernst genommen.
Wie falsch er lag sollte sich keine vier Tage später auf dramatische Weise zeigen.

Auch ging manch einer mit einem unguten Gefühl an Bord. Soweit ich gehört hatte, hatte es bei der Erbauung der Titanic einige Unfälle und vor allem hässliche Todesfälle gegeben, die ein schlechtes Licht auf das Schiff warfen. Schon mir dem Ziel, das zu der Zeit größte, teuerste und schönste Schiff der Welt zu bauen, war unter den Reedereien ein Konkurrenzkampf ausgebrochen, der heutigen Flugzeug oder Autoindustrien durchaus das Wasser reichen konnte. Größer, schneller und luxuriöser sollten sie werden, die beiden Schiffe der White Star Line. Und das wurden sie. Ich selbst habe die Olympic nie gesehen, aber was ich von der Titanic sah stellte alles, was ich bis dahin von Schiffen kannte, in den Schatten. Schließlich war ich kein Seemann und kannte mich nicht sonderlich gut aus, aber es war klar, dass die Titanic größer sein musste als alles da gewesene.

Schaut man sich heute Schiffe wie die „Queen Mary II“ an, kann man die Titanic nur als fast schon lächerlich bezeichnen, aber es stimmte: Sie war größer, schwerer, aber zugleich auch schneller als alle anderen Schiffe. Doch noch während wir unten am Kai standen und warteten, dass man uns hinein ließ in dieses Wunder der Schifffahrtskunst, wurde gemunkelt, das Schiff sei verflucht. Die Menschen waren auch zu dieser Zeit so abergläubisch wie im Mittelalter. Ein paar Menschen waren beim Bau ums Leben gekommen und hier beschwor man eine Katastrophe für das Schiff herauf. Es würde alles ein schreckliches Ende nehmen. Dort, am Kai, habe ich darüber gelächelt. Was sollte schon passieren! In vier Tagen wäre ich wieder zu Hause. In dieser kurzen Zeit konnte sich wohl kaum eine Katastrophe ereignen.

An Bord bekam ich meine Kabine zugeteilt und stellte mein Gepäck ab. Viel hatte ich nicht mit genommen. Und natürlich reiste ich nicht unter meinem richtigen Namen. Damals musste ich meine Identität so oft wechseln, dass ich bis gerade eben nicht einmal mehr wusste, wie ich damals vorgegeben hatte zu heißen.
So, Ihre Kabine, Sir.“ Mein Koffer wurde hinter mir abgestellt und ich sah mich in dem kleinen Raum um. Stilvoll war es, das musste ich zugeben. Für meinen Geschmack vielleicht etwas zu prunkvoll. Der Gepäckträger verschwand und wurde fast sofort durch einen anderen Mann in einer Marineuniform ersetzt, der sich hinter meinem Rücken höflich räusperte. Ich hatte ihn kommen hören und drehte mich zu ihm herum.
Ja?“
Sir, ich wurde angewiesen, Ihnen ein bisschen zu helfen, sich an Bord zurecht zu finden.“ erklärte er und stand stramm. Widerwillig nickte ich und ließ mir alles zeigen, wo der Speisesaal war, das Raucherzimmer, der Pool, der Aufgang zu den Promenaden und so weiter und so fort.

Doch bei einem der Gänge über das Schiff – ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir den Anker gelichtet und auf die offene See hinaus gefahren waren – sah ich eine junge Frau, etwas jünger als ich es zum Zeitpunkt meiner Verwandlung gewesen war. Sie trug bürgerliche Kleidung, hatte glattes, blondes Haar, dass sie zu einem Knoten aufgesteckt hatte und redete energisch auf einen Mann ein, der nur ihr Vater sein konnte. Ich blieb stehen und sah sie an. Zu lange wohl, denn sie drehte sich unvermittelt in meine Richtung und warf mir einen abschätzigen, ja feindseligen Blick zu. Unwillkürlich zuckte ich zusammen und ging dann weiter, als ginge mich das alles nichts an.

Nur einmal schielte ich noch zu ihr herüber. Sie stand ein Stück entfernt und sah auf das Wasser hinaus. Wieso hatte sie mich so angesehen? Das verstand ich nicht. Ich hatte ihr doch nichts getan. Ich hatte sie nur angestarrt, weil ich neugierig war. Mehr nicht. Aber sie wertete das gleich als Angriff. Wohl, weil sie dazu erzogen worden war, nicht jeden Mann an sich heran zu lassen, der ihr nach sah. Also beschränkte ich mich darauf, genau wie sie das Wasser viele Meter unter mir zu betrachten, bis die Schiffsglocke uns zum Essen rief.


Beth unterbrach mich. „Moment mal 'zum Essen rief'? Hast du etwa...?“ Sie führte den Satz nicht zu Ende und ich lächelte. „Nein, Beth. Ich habe nicht irgendwen angefallen und ihn ausgesaugt, wenn du das meinst. Aber danke, dass du so große Stücke auf mich hältst, das schmeichelt mir ungemein.“ Sie wurde rot und senkte den Blick.
„Ich... das tut mir Leid, ich wollte nicht...“ fing sie an, aber ich unterbrach sie.
„Ist schon in Ordnung. Es war nur natürlich, anzunehmen, dass...“ Ich schwieg wieder.
„Aber was hast du... ich meine, wovon...?“ Wieder ein kleines Lächeln.
„Lass mich weiter erzählen, dann wirst du es vielleicht erfahren. Das, und noch mehr.“ erwiderte ich mit einem Blick auf Sophia, die den Kopf senkte.

Ich betrat den Speisesaal auf der Suche nach einem freien Platz. Zwar wusste ich, dass es für mich immer noch prinzipiell gefährlich war, mich durstig unter Menschen zu begeben, aber ich hatte keine andere Wahl.
Ah,Mr. Fitzgerald!“ rief eine Frauenstimme, und ich drehte mich zu der Quelle des Geräusches um. Eine füllige kleine Frau mit drei Ringen an jedem Finger, einem Hut und extravaganter Kleidung kam auf mich zu. Nie in meinem Leben hatte ich sie gesehen und doch kannte sie mich.
Setzen Sie sich doch zu uns. Hier ist noch etwas frei!“ winkte sie und deutete auf einen Stuhl neben einem großen, weißhaarigen Mann, den ich auf den zweiten Blick als Kapitän Smith identifizierte. Zögerlich ging ich zu der Tischgesellschaft und die Frau streckte mir eine beringte Hand entgegen. „Margaret Brown, freut mich wirklich außerordentlich.“ Insgeheim fragte ich mich, ob ich jetzt so etwas wie einen Ehrenstatus hatte. Ich war doch nichts besonderes. Kein Sohn reicher Eltern, selbst Millionär (zumindest nicht mehrfach, wie der überwiegende Rest der Anwesenden an diesem Tisch) oder Besitzer einer großen Firma. Ich verstand nicht einmal besonders viel von Schiffen. Aber das tat „Molly“, wie wir sie alle nannten, wahrscheinlich auch nicht.

Ähm... ja, freut mich auch.“ murmelte ich und versuchte, nicht zu tief einzuatmen. Nicht, weil es hier schlecht roch. Ganz im Gegenteil. Es roch sogar sehr verführerisch und gerade deswegen musste ich auf der Hut sein.
Ich... ich habe eigentlich keinen Appetit. Vielleicht sollte ich wieder...“ das 'gehen' blieb mir in der Kehle stecken, als sie mich resolut auf den freien Stuhl drückte. „Ach Unsinn! Sie bleiben jetzt hier und essen etwas mit uns. Sie sehen mir danach aus, als könnten Sie ordentlich etwas auf die Rippen vertragen!“ sagte sie freundlich und klopfte mir kräftig auf die Schulter.
Ich... nein, wirklich... ich habe keinen Hunger.“ Lag es daran, dass sie eine Frau war, dass sie mich überhörte? Oder daran, dass sie gerade ein Streitgespräch mit einem bärtigen Mann über Frauenrechte neben sich anfing?

Was haben Sie gesagt, mein Lieber?“ fragte sie freundlich. „Ich... nichts. Ist schon gut.“ erwiderte ich. Sie sah in die Runde. „Wie dumm von mir, ich hatte ganz vergessen, Sie alle bekannt zu machen. Nun, Kapitän Edward Smith kennen Sie ja sicher schon.“ Ich nickte dem Mann neben mir freundlich zu und er lächelte zurück.
Dann hätten wir da noch Thomas Andrews, Bruce Ismay...“ sie machte der Reihe nach weiter. Ich hörte kaum zu und nickte nur höflich. Zu sehr war ich damit beschäftigt dem Kapitän neben mir nicht die Zähne in den Hals zu graben. Der roch zwar nicht halb so gut wie Madeleine Astor, die neben ihrem Ehemann zwei Tische weiter saß, aber wenn man keine Wahl hatte, hatte man keine Wahl...
Hastig sprang ich auf, bevor das verlangen all zu stark wurde.
Entschuldigen Sie mich. Mir ist... unwohl.“

Damit stürzte ich aus dem Raum und nach draußen an die frische Luft. Wie ich dort stand und die klare Seeluft in mich sog wie ein halb Erstickter, merkte ich gar nicht, wie etwas entfernt die junge Frau von vorhin an die Reling trat. Ich sah zu ihr herüber und wieder weg, als sie in meine Richtung schaute. Zuerst musste ich meinen Durst in den Griff bekommen. Noch nie hatte ich ganze vier Tage oder länger gehungert und bei meiner schwachen Selbstbeherrschung mochte es vorkommen, dass der eine oder andere Passagier demnächst mit Bissspuren aufzufinden war oder niemals mehr aufwachte.
As ich sicher war, meinen Durst gezähmt zu haben, sah ich auf. Die blonde Schöne von vorhin ging in eine andere Richtung, von mir weg. Gegen meinen Willen lief ich ihr nach, leise, wie ich es als Vampir gewöhnt war. Sie hörte mich nicht. Aber je näher ich ihr kam, desto berauschender wurde ihr Duft. Schließlich drehte sie sich zu mir um, wohl nicht meinetwegen, sondern einfach um den Weg wieder zurück zu gehen, den sie gekommen war, und stieß dabei mit mir zusammen.

Einen Moment verdrängte ihre Wärme, ihr Körper, der sich an meinen schmiegte alles andere. Bis der Durst nur noch stärker wurde. Ich musste die Augen zusammen kneifen und mich sammeln, weil man sonst meine Eckzähne gesehen hätte und die Veränderung in meinen Augen, wenn das Raubtier aus mir hervor brach. „Oh Verzeihung, habe ich ihnen weh getan?“ erkundigte sie sich und ich hielt  die Augen immer noch geschlossen. Unbewusst drückte ich meinen Körper gegen ihren und seufzte leise. Das machte alles nur noch schlimmer, ich wusste es ja, aber ich konnte nicht anders handeln.
Ähm. Sir? Würden Sie mir erklären...“ Ich sah auf, merkte, in welcher Lage sie und ich steckten und ließ sie reflexartig los.
Ich... wie dumm von mir. Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten, Miss...?“
Santero. Emily Santero.“ erwiderte sie verdutzt und trat  einen Schritt von mir weg. Das war es nicht, was ich wollte. Ich wollte sie nah bei mir haben, ihren Geruch in der Nase. Unwillkürlich machte ich einen halben Schritt auf sie zu, entschied mich aber dann anders.

Spionieren Sie mir nach, Sir?“ fragte sie spitz und musterte mich dann wieder mit dem abschätzenden Blick, den ich schon kannte. Ich hatte so viel Anstand, rot zu werden. „Wer ich? Nein. Scheinbar hatten wir nur beiden den selben Weg.“ erwiderte ich und ließ sie endgültig los. Verlegen senkte ich den Blick.
Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, Miss.“ murmelte ich zum wiederholten Male, neigte grüßend den Kopf und verschwand in die entgegengesetzte Richtung, das Grummeln meines Magens und das Prickeln im Rachen ignorierend.“

Mittlerweile hatten wir uns auf eine Treppe gesetzt. Die anderen schwiegen ob der Erzählung, ich schwelgte in Erinnerungen. An ihre Stimme, ihr helles Haar, ihre grünen Augen... Wenn ich die Augen schloss konnte ich sie wieder vor mir sehen. So, wie sie gewesen war, bevor... nein, nicht daran denken.
Das war eine Geschichte für ein anderes Mal.
 
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