Meine Geschichten
  Gebrochenes Versprechen
 
Ich merkte noch, wie ich neben ihr auf die Knie sank, in den dunklen, feuchten Regenwaldboden. Wasser – oder war es ihr Blut – drang durch die Knie meiner Hose, aber es war mir egal. Ich war wie blind, sah nur noch sie, wie sie mich anstarrte.
Ihre Augen schienen aus den Höhlen zu quellen und das dunkle Braun schien mit einer Intensität zu leuchten, die ich ihr niemals zugetraut hatte. Sie hatte Todesangst.
Ich konnte nicht einmal weinen, obwohl ich wusste, dass sie, mein Engel, mein Ein und Alles, im Sterben lag. Da gab es nichts, was ich tun oder sagen konnte um ihr zu helfen. Nichts, was ich freiwillig getan hätte. Nicht, ohne sie vorher zu fragen. Dazu war es jetzt zu spät.

„Guillermo... tu etwas, bitte.“ meine Stimme war nur ein Hauch, mehr brachte ich nicht zu Stande. Mein ganzer Körper fühlte sich an wie gefroren, wie durchbohrt, wie... als läge ich dort und blutete und nicht sie.
Meine Hand, die sich noch eben in die dunkle Erde gekrallt hatte wie eine Wurzel der uralten Bäume, so als könnte ich dort Halt finden, der mir zu entgleiten drohte, fand ihren Weg zu ihrem Kopf. Sanft fuhr ich ihr damit durch die glatten Haare, die selbst in diesem Moment die Farbe von Nussholz hatten und immer noch einen schwachen Geruch von Jasmin absonderten.
„Alles wird gut, hörst du?“ flüsterte ich rau und konnte nicht umhin, dass meine Stimme auf der letzten Silbe brach.

Wie betäubt sah ich dem Pathologen dabei zu, wie er seine Lippen auf ihre legte, ihr die Nase zu hielt und ihr dann seine Luft in die Lungen presste. Ein pfeifendes Geräusch, als würde Luft aus einem Reifen entweichen, und Sophias unglaublich wohlriechender, warmer Lebenssaft spritzte mir ins Gesicht.
„Sie haben ihr...“ murmelte der Mexikaner entsetzt und hockte sich auf den Ballen seiner Zehen zurück. Es war unmöglich, Sophia noch auf herkömmlichem Wege zu retten, das wusste ich. Wenn die Lunge mehrfach zerschossen war, so wie hier, war sie gerade dabei, qualvoll zu ersticken. Nur durch einen Weg konnte ich das verhindern, aber das würde ich nicht tun. Lieber würde ich sie sterben lassen als mit zu erleben, wie sie zu einer Hülle wurde, einem Gefäß, in dem das Leben noch einen Platz hatte, sie aber in den ewigen Dornröschenschlaf beförderte, weil es keine Rettung gab. Das würde ich ihr nicht antun.

Das große, herrschaftliche Haus ihres Vaters. Durch die hohen Fenster fiel gefiltert durch die Vorhänge das Sonnenlicht herein, aber ich konnte trotz halb zusammen gekniffener Augen die Silhouette einer Frau vor dem Fenster ausmachen, die mir den Rücken zuwandte. Selbst auf die Entfernung hörte ich, wie sie schniefend die Nase hoch zog, anstatt sich in ein Taschentuch zu schnäuzen. Nicht sehr damenhaft.
Was ist so schwer daran, zu verstehen, dass ich mit dir zusammen sein möchte? Für immer?“ fragte sie und drehte sich endlich zu mir herum. Die kastanienbraunen Locken, die in der Sonne und bei jedem Licht einen anderen Ton von Rot in sich aufwiesen, umrahmten ein schmales, schönes Gesicht. Die dunklen Augen sahen mich todtraurig an, dass es fast meinen Entschluss ins Wanken brachte.

Es ist nicht schwer zu verstehen. Aber du weißt nicht, was für Risiken dich erwarten. Du könntest dabei sterben. Ich... ich könnte vielleicht nicht am richtigen Punkt aufhören zu trinken oder du verträgst die Wirkstoffe nicht, die mit meinem Biss in dein Blut gelangen. Oder dass du mein Blut nicht verträgst, oder...“ sie hielt eine Hand hoch und ich schwieg. Anders hatte ich es ihr nicht erklären wollen und können. Es war wie bei einem Drogensüchtigen, der vielleicht irgendwann aufhörte, Drogen zu nehmen, wenn er die Menschen sah, die daran gestorben waren, wenn er sich vor Augen rief, was die Stoffe in seinem Körper anstellten und was für einen Schaden sie ihm zufügen konnten. Sie war so besessen danach, zu werden wie ich, dass ich keinen anderen Weg sah, als es ihr so zu zeigen. Mit den harten, unnachgiebigen Tatsachen. Immerhin war es eine Entscheidung für die Ewigkeit. So eine Entscheidung traf man nicht leichtfertig.
Das ist doch bloß eine Ausrede! Du... du willst gar nicht, dass ich für immer bei dir bin! Ist es weil... es irgendwann langweilig wird und man sich jemand anderes sucht? Weil... weil du mich nicht genug liebst?“ Wie sehr musste man denn einen Menschen lieben, um ihn zu einem Monster zu machen? Um ihm den Tod zu nehmen? War es nicht viel eher ein Akt des Hasses, einem Menschen all die guten Dinge zu nehmen, die man mit Leben verband? Essen, atmen, heiße Bäder, Sonnenbaden, ein weiches Federbett?

Und das ist Unsinn, was du da von dir gibst!“ erwiderte ich scharf. „Ich liebe dich mehr als mein... naja, mehr als... ich...“
Sie sah mich bitterböse an.
Siehst du, dir fällt nicht mal ein, wie sehr du mich liebst!“
Nur weil ich nicht mehr sagen konnte ich würde sie mehr lieben als mein Leben, weil dieses als solches nicht mehr existierte, hieß das noch lange nicht, dass ich sie gar nicht liebte.
Ich kann dir ja schlecht sagen ich würde dich mehr lieben als den Tod, denn immerhin...“
Doch, genau das hättest du sagen können!“ flüsterte sie leise und wandte mir wieder den Rücken zu.
Ich überwand die kurze Distanz bis zu ihr und legte ihr die Arme um die Hüften.
Sie wollte sich loswinden, aber sie kam nicht frei. Dazu hielt ich zu fest. „Lass mi-“ fing sie an, als ich meine Lippen ganz dicht zu ihrer Schlagader brachte und meine Zähne sich über die Unterlippe schoben. Erschrocken hielt sie die Luft an.
Ich versuche es. Bis in den Tod, richtig?“ fragte ich leise, mein kalter Atem bereitete ihr Gänsehaut. Schließlich brachte sie ein Nicken zu Stande.
Oder bis in die Ewigkeit.“ hauchte sie zurück. Das war mir Bestätigung genug. Ich spürte, wie sie leise zitterte und die Augen schloss. Immerhin wusste sie, dass es nicht ohne Schmerzen gehen würde. Das war mehr, als sich mit der Nadel in den Arm zu stechen. Viel mehr.

Ich hatte vorsichtig zubeißen wollen, aber das Verlangen, ihr Blut zu kosten, es nicht nur riechen, sondern schmecken und fühlen zu können, wurde zu stark. So grob wie jetzt biss ich sonst selten zu, aber ich hatte mich einen winzigen Moment nicht unter Kontrolle. Vielleicht trug das mit dazu bei, was ihr geschah.
Mit einem Aufkeuchen sank sie gegen mich und ich ließ mich mit ihr auf das Bett fallen, während ich trank. Mehr und mehr, fast konnte ich nicht mehr aufhören. Doch sie erwachte nicht mehr, auch nicht, als ich ihr mein Blut zu trinken gegeben hatte und die Verwandlung eigentlich abgeschlossen war.

Ich war eine winzigen Moment in Erinnerungen gefangen gewesen, einen Moment, in dem es um Leben oder Tod ging. Als ich Guillermo hilfesuchend ansah, färbten sich seine eigentlich dunklen, fast schwarzen Augen heller und heller, bis sie das durchdringende eisblau des Vampirismus inne hatten. „Ich kann dir jetzt nicht mehr helfen, Josef.“ Das erste Mal seit unserem Aufbruch aus Italien sprach er mich mit meinem richtigen Namen an, ein Beweis für den Ernst der Lage. Patricia mussten wir nichts mehr vor machen. Sie wusste vermutlich ohnehin, dass wir nicht das waren, was wir zu sein vorgaben. Immerhin hatte sie gesehen, wie ich den Mann der Legion angefallen und von ihm getrunken hatte. Sie hatte keine Eckzähne und meine veränderten Augen gesehen und konnte sich darauf sicherlich einen Reim machen.

Aber das war im Moment mein kleinstes Problem. Das Gespräch fiel mir ein, dass ich mit Sophia geführt hatte, als wir noch bei Lance in Mexiko gewesen waren und die Gefahr noch nicht so drohend erschien wie gerade in diesem Augenblick.
Willst du nicht, dass ich so werde wie du?“ hatte sie gefragt, und ich hatte wirklich nachdenken müssen. Nicht so sehr um das Warum. Meine Gründe waren klar und verständlich. Aber schon mehr um das, was hinter dieser Frage stand. Ich kannte ihre Angst. Sie war Sarah so ähnlich...
Nein. Und du weißt auch genau warum. Denk mal nach.“ hatte ich ihr zur Antwort gegeben. Sie hatte nicht lange überlegen müssen, es war offensichtlich gewesen.
Weil du Angst hast es könnte ende wie bei Sarah. Dass ich nicht mehr aufwache... oder dass ich sterbe.“
Ich hatte mir immer geschworen, sie nicht sterben zu lassen. Und hatte ich es nicht dreimal erfolgreich geschafft, den Tod von ihr fern zu halten? Als Catherine sie entführt hatte? Als sie wieder gekommen war um sie erneut zu töten? Als sie unter die Autos geraten war? Als Treasure sie fast das Leben gekostet hatte? Aber jetzt schien es, als wollte Gott, dass sie starb.
Das konnte ich nicht zulassen. Ich hatte mir immer geschworen, niemanden zu verwandeln der noch eine andere Wahl hatte, aber hier bestand diese Wahl nicht. Und je mehr Zeit verstrich, desto mehr schwanden meine Chancen, überhaupt noch etwas zu tun.

Wieso hasste Gott, wenn es ihn denn gab, mich denn so? Was hatte ich ihm denn getan? Gut, ich war nicht jeden Sonntag in die Kirche gegangen um zu beten, aber wer außer einer handvoll frommer Menschen tat das denn noch? Die Kirche war heiliger Boden, nichts, dass eine dunkle Kreatur wie ein Vampir jemals betreten sollte. Früher hatte es immer geheißen, die Berührung heiligen Bodens, heiliger Gegenstände und geweihten Wassers bringe unsägliche Schmerzen für die verfluchte Kreatur mit sich. Einen triftigeren Grund für die Vampire, die Kirchen zu meiden, konnte es gar nicht geben, auch wenn ich wusste, dass das Nonsens war.
Kruzifixe, geweihtes Wasser, Knoblauch und all das andere Zeug machten uns nichts aus. Nur ein paar lateinische Worte murmeln und auf göttlichen Beistand hoffen würde keinen von ihnen vor den Bestien bewahren, die nachts durch die Städte streiften und die Rechtlosen jagten.

Guillermo sah mich eindringlich an.
„Josef, du hast nicht mehr viel Zeit!“ flüsterte er eindringlich. Das wusste ich ja, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihr Leben zu retten. Ihr Leiden zu verlängern, korrigierte ich mich in Gedanken, denn genau das würde passieren, wenn ich sie biss und sie blieb in dem Zustand stecken,  wie Sarah einst vor so langer Zeit.
Und Guillermo wusste nicht einmal, warum ich es vorzog, Sophia ehrlich sterben zu lassen, statt später ihren Eltern etwas von einem Koma erzählen zu müssen, aus dem sie nie wieder aufwachen würde.
Ich schüttelte den Kopf und stand auf. „Da hast du Recht. Die Zeit ist um. Ein für alle Mal.“ Seltsamerweise bereitete mir diese Erkenntnis keine Schmerzen. Hatte ich mich zu sehr darauf eingestellt, dass so etwas passieren musste, dass ich jetzt nicht mehr glaubte, es wäre schlimm?

Noch war Zeit, Sophia zu retten. Ihr Leben zu retten. Etwas ließ mich zögern. Die Gewissheit, dass ich versagen würde. Ich würde versagen und sie so verlieren, wie ich Sarah verloren hatte, das wusste ich sicher.
Ich war noch keine fünf Meter weg, da hörte ich Guillermo hinter mir leise grollen.
„Wenn du es nicht tust, tue ich es. Ich lasse sie nicht einfach so sterben.“
Glaubte er denn, das, was ich da tat, sei leicht? Für irgendwen hier? Dass es leicht sei, ein Menschenleben zu opfern? Guillermo wusste ja nicht einmal, was er da sagte!
Ruckartig fuhr ich herum. Unter der Intensität meines eisblauen Blicks hätte er zu einem Haufen schwelender Asche werden müssen. Die Hitze, die jetzt aus meinen Eingeweiden hochblubberte, konnte ich fast auf der Zunge schmecken. Der wütende Geschmack des Hasses, mit einer kleinen Note von Besitzergreifung. Ich wollte nicht, dass er Sophia biss und auch nicht, dass er es war, der ihr Blut trank. Sie war mein, schon immer. Und das würde auch immer so sein.

„Das tust du nicht!“ schrie ich wütend, dass sich meine Stimme überschlug. Verwirrung spiegelte sich auf seinen Zügen, als ich zu ihm herüber schoss und ihn von Sophia fort stieß. Ein dunkles, bedrohliches Grollen kam über meine Lippen, so besitzergreifend, dass sich niemand der drei anderen Anwesenden in meine Nähe traute. Das war vielleicht auch besser so, denn ich wusste nicht, wie ich reagieren würde, würden sie mich auch nur berühren.
Der Geruch des Blutes, ihres Blutes, dass ich noch nie zuvor hatte kosten dürfen, tränkte jedes Molekül der Luft um mich herum und ließ sie süßer, würziger schmecken. Ein tiefer, gutturaler Laut kam aus meiner Kehle. Es war wohl so eine Mischung aus einem Knurren und einem Stöhnen, als ich neben ihr auf die Knie ging und spürte, wie meine Eckzähne sich willig nach vorn schoben, um ihren Dienst zu tun.

Vorsichtig näherte ich mich ihrer Halsschlagader. Schon wurde der Herzschlag schwächer und schwächer. Ich hörte ihn kaum noch. Vielleicht war es schon zu spät? Es gab einen Punkt beim Menschen, an dem selbst Vampire machtlos waren. Zudem hatte sie noch Kugeln im Körper, aber ihr die zu ziehen, während sie noch ein Mensch war, würde ihren sicheren Tod bedeuten. Ihre Augen waren geschlossen, die Züge ihres Gesichtes wächsern und bleich, so als wäre sie schon untot.
Ich zögerte und verharrte in der Hocke, bevor ich ihren Oberkörper umschlang und sie zu mir heran zog. Vorsichtig strich ich ihr das Haar zur Seite. Hätte es gekonnt, mein eigenes Herz hätte geklopft wie eine Trommel. So aber schwieg es und auch ihr Herz würde schweigen, wenn ich nicht schnell etwas unternahm.
Schnell zählte ich die Schusswunden. Es waren vier. Zwei in der Brust, eine im Hals und eine weitere dicht unterhalb des Nabels. Das würde ihr noch am meisten Schmerzen bereiten, wenn ich nicht schnell handelte. Austretender Magensaft, der sich in den Körper ergoss, war eine sehr, sehr schmerzhafte Art, zu sterben. Das wünschte ich nicht einmal meinem ärgsten Feind.

Noch einmal schluckte ich und leckte mir die Lippen, um sie zu befeuchten. Sie fühlten sich rissig an wie altes Pergament und knisterten ebenso.
Als ich Guillermo anblickte, nickte der leicht mit dem Kopf.
Noch einmal atmete ich tief durch, dann legte ich ihren Hals weiter frei und biss zu. Es war, als würde ein verdurstender in eine überreife Orange beißen. So wie sich deren Saft in die ausgedorrte Kehle des armen Menschen ergießen würde, so ergoss sich Sophias verbleibender Lebenssaft, der noch nicht den Erdboden getränkt hatte, in meine Kehle. Plötzlich fiel alle Nervosität, alle Angst von mir ab.
Alles wird gut, du schaffst das. Flüsterte ich mir selbst zu. Es dauerte nicht lang, bis überhaupt kein Blut mehr floss und ich Sophia auf dem Boden ablegte. Ich konnte die Anwesenheit der anderen beiden Frauen hinter mir deutlich wahrnehmen, von der Legion hörte ich nichts mehr. Auch dass Mick noch nicht wieder aufgestanden war, beunruhigte mich ein wenig, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Er würde schon seine Gründe haben.

Die Bisslöcher stachen wie zwei winzige, rote Augen aus ihrem Fleisch. Ich hörte ihr Herz nicht mehr schlagen. Mir zitterten die Hände, aber als ich zu Guillermo blickte, sah ich, dass er ganz ruhig blieb. Ohne auf mein lauter werdendes Knurren zu achten, knöpfte er ihr die Bluse auf und zog mit spitzen Fingern die vier Kugeln aus ihrem Körper, dann bedeutete er mir, fort zu fahren.
Der Teil, der jetzt kam, machte mir von allem am wenigsten Spaß. Ich musste mir selbst eine Wunde schlagen, weil menschliche Zähne nicht dazu ausgerichtet waren, Fleisch und Muskeln zu durchtrennen, zumindest nicht mehr so, wie sie das früher einmal gewesen waren. Das Gebiss der heutigen Menschen beinhaltete zum großen Teil Mahlzähne. Und doch war es ein Allesfressergebiss, nur waren ihre Eckzähne zu rudimentär und zu schwach, um durch Haut zu schneiden. Ich krempelte den Ärmel meines Hemdes bis zum Ellbogen nach oben, dann biss ich mir selbst in die Pulsader. Erstaunlich, dass bei einem Wesen, dass keinen Herzschlag mehr besaß, trotzdem noch Blut im Körper existierte. Aber es gab wohl niemanden, der eine Erklärung dafür hatte, warum  das so war.
Der Schmerz war klein im Vergleich zu dem, was ich ihr damit gab. Dann würde uns nichts mehr trennen können. Dadurch, dass ich ihr Blut getrunken hatte und sie meines, würde sie – wenn es denn fehlerfrei funktionierte – mit mir verbunden sein. Auf einer höheren Ebene als menschliche Partner fürs Leben. Ich würde fühlen, was sie fühlte und umgekehrt würde es genau so sein.

Ungeachtet des Schmerzes hielt ich meinen Unterarm über ihren Mund. Guillermo drückte ihr den Unterkiefer herunter, der haltlos weg klappte, als wäre er gebrochen oder ausgerenkt. Dann drückte ich mit meiner anderen Hand die Wundränder zusammen, bevor diese sich wieder schließen konnten. Nur tröpfchenweise floss das Blut aus meinem Arm, das ging nicht schnell genug. Wenn ich einen echten Erfolg erzielen wollte, muss ich tiefer beißen. Also senkte ich mir die Zähne erneut in den Arm. Nach wenigen Millimetern spürt ich, wie ich die Schlagader traf und das Blut nur so sprudelte. Ich hielt den Arm wieder über Sophias geöffneten Mund. Plick, plick, plick machte es.
Bange Sekunden verstrichen, in denen nichts geschah. Plötzlich sah ich, wie sich die Wunden an ihrem Hals und die Schusswunden wieder schlossen. Aber ein Grund, wieder aufzuatmen war das nicht. Sarahs Wunden waren schließlich auch sofort verheilt und trotzdem war sie nicht aufgewacht. Ein tiefer Atemzug dehnte Sophias Brustkorb, während ich die Wunde an meinem Arm davor bewahrte, sich zu schließen, indem ich den Zeigefinger der anderen Hand bis zum ersten Gelenk in den Schnitt schob.

Es brannte höllisch, aber das würde nichts sein im Vergleich zu den Schmerzen, die mich erwarteten, wenn es schief ging. Vielleicht waren sie „nur“ seelischer Natur, aber dennoch stark genug, um mich zu zerreißen. Sie musste die Augen öffnen und mich ansehen. Ich wollte, dass sie mein Blut trank, denn nur so konnte ich gewährleisten, dass es wirklich funktionierte.
Schließlich hielt ich ihr den Arm wieder mit der Wunde zu unterst vors Gesicht. Ein dünnes Rinnsal Blut tropfte immer noch daraus hervor und benetzte ihre Lippen. Dann kam sie mir ruckartig entgegen und grub kräftige, weiße Eckzähne in mein Fleisch, dass ich gepeinigt aufkeuchte.
Die Tränen, die sich in meinen Augen sammelten, waren nicht nur dem Schmerz entsprungen. Ich hatte es nicht vermasselt. Ich hatte einen Vampir geschaffen, etwas, dass ich niemals mehr für möglich gehalten hatte.

Wie lange sie trank, weiß ich nicht. Nur, dass ich unendlich glücklich war, sie nicht für immer verloren zu haben. Und als sie die Zähne endlich aus meinem Unterarm löste und der Biss verheilte, sah ich zu ihr. Wir befanden uns auf Augenhöhe. Zuerst wich ich vor dem Anblick zurück, der sich mir bot, aber dann gab es nichts schöneres für mich als sie ihre eisblauen Augen waren perfekt und schimmerten mit einem Feuer, dass ich oft bei Neugeborenen gesehen hatte. Das erste, was sie brauchen würde, wäre Blut.
Doch plötzlich sah sie nicht mehr mich an, sondern blickte über meine Schulter hinweg starr auf etwas anderes. Ich wandte den Kopf, als aus Sophias Kehle ein tiefes Grollen kam. Sie grollte Beth und Patricia an. Und der Blick versprach den Beiden den Tod. Noch bevor sie aufspringen konnte, hatte ich mich bereits auf sie geworfen. Erstaunlich, was für eine Kraft sie als Neugeborene hatte, denn ich hatte Mühe, sie unten zu halten. Schließlich gelang es mir und ich hörte Guillermo davon huschen, um zwei der toten Soldaten der Legion zu holen. Er hielt ihr die Arme der Toten vors Gesicht. Ohne zu zögern biss Sophia zu und ich sah die Verzückung auf ihren Zügen, als sie das erste Mal richtig ihren Hunger stillte. Zu mehr als Nahrung war dieser Abschaum der Legion nicht zu gebrauchen. Nach dem zweiten Soldaten wich der hungrige Ausdruck aus ihren Augen und sie fiel augenblicklich in Schlaf. Das kannte ich. Der erste Blutrausch konnte überwältigend stark sein. Immerhin hatte sie gerade satte zwölf Liter Blut verdrückt.

Erleichtert und unendlich glücklich stand ich auf. Guillermo ließ ich bei ihr, falls sie aufwachen und erneut die Kontrolle verlieren sollte, was durchaus vorkommen konnte, auch wenn es nicht ihrer Absicht entsprach.
Doch als ich mich zu dem Fleck wandte, auf dem Mick hatte liegen müssen, präsentierte sich mir außer einer großen Lache Blut nichts. Mein Freund war fort.
 
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