Meine Geschichten
  Sophia
 
Ich wurde wach, weil am nächsten Morgen jemand gegen meinen Kühltruhendeckel pochte. Ray stand draußen und ich schob den Deckel auf und sah ihn mit müden Augen an. Richtig erholsam war der Schlaf nicht gewesen, aber ich streckte mich gehorsam und stand auf. Er wartete draußen, während ich mich anzog.
„Ich habe dir einen Zug rausgesucht, der bis nach Seattle durchfährt. Andernfalls hättest du mindestens sechs Mal umsteigen müssen, und das wollte ich dir ersparen.“ rief er durch die Tür, während ich duschte und frische Kleidung anzog.
„Trinkst du eigentlich immer noch 0-Positiv?“ fragte er, während wir die Treppe herunter gingen. Im Kühlschrank kramte er nach Blutkonserven, schnitt zwei davon auf und goss den Inhalt in zwei Becher. Den einen reichte er mir, den anderen behielt er selbst. Ich roch an meinem.
0-Positiv, wie er es vorausgesagt hatte. Ich nickte ihm zu, sowohl als Antwort auf die Frage, als auch als Dank für den Drink.
„ich weiß, du bevorzugst Frischblut, aber ich habe leider gerade nichts im Haus.“ bedauerte er, aber ich schüttelte nur den Kopf.
„ich bin von Mick nichts anderes gewöhnt, Ray, wie könnte ich dir da böse sein?“ fragte ich und trank einen Schluck aus meinem Becher. Das Blut war herrlich kühl und ich merkte, wie es meine Lebensgeister weckte. Das war besser als der Kaffee, den die Menschen zu trinken pflegten.
Er lehnte sich gegen die Küchenzeile und sah mich aus dem Augenwinkel an.
„Und, was hast du vor, wenn du dort ankommst und er ist immer noch in Seattle?“ fragte er und trank noch eine Schluck.

Ich dachte eine Weile nach und schwenkte den verbliebenen Rest in meiner Tasse hin und her. Es gluckerte leise. Daran hatte ich noch kaum gedacht. Was würde ich machen, wenn ich Mick dort fände? Ihn gewaltsam wieder nach Los Angeles zerren? Das würde er mit sich nicht machen lassen. Vermutlich würde es wieder zu einem Kampf kommen, in dem einer von uns beiden den kürzeren ziehen musste, irgendwann.
Ich seufzte leise.
„Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht. Vielleicht kommt er freiwillig wieder zurück. Aber das glaube ich eigentlich nicht. Du weißt, wie er ist. Wenn er sich einmal was in den Kopf gesetzt hat, kann ihn davon so schnell nichts mehr abbringen.“ Ich versuchte es mit einem Lächeln.
„Vielleicht muss ich ihn pfählen und dann den ganzen Weg zurück zu Fuß zurücklegen, weil es auffallen würde, wenn ich einen Menschen mit mir herumschleppe, der einen Holzpflock im Herzen hat.“ Er gluckste leise, aber es klang nicht fröhlich.

Ich trank meine Tasse aus und holte meine Reisetasche sowie das Blut aus dem Kühlschrank.
„Hoffen wir mal, das du nicht zu solchen Methoden greifen musst, alter Junge.“ sagte Ray und klopfte mir auf die Schulter.
Ich hoffte auch inständig, das sich das Problem irgendwie anders lösen ließ. Er brachte mich noch zur Tür und ich schulterte meine Tasche ein wenig höher.
„Ach, wenn du ihn findest, richte ihm doch schöne Grüße aus, ja?“ sagte er und lehnte sich in den Türrahmen. Ich lachte auf.
„Langsam komme ich mir vor wie ein Postkasten.“ sagte ich. „Erst Beth, dann Logan und jetzt du. Mal sehen, wer mir noch so über den Weg läuft.“ scherzte ich und er lachte, winkte noch einmal und machte dann die Tür zu.
An einem Taxistand – dem gleichen, den ich schon gestern benutzt hatte – nahm ich mir ein Taxi und hatte prompt den selben Fahrer, der prompt die selben Arien schmetterte und mir wiedermal viel zu viel Geld für die Fahrt in dieser Sardinendose abknöpfte.

Am Bahnhof hatte der Zug über eine Stunde Verspätung und ich war froh, vorher genug Blut getrunken zu haben, sonst wäre es wirklich ernst geworden. So aber konnte ich mich beherrschen, auch wenn ich es hasste, zu lange auf ein Fortbewegungsmittel jeglicher Art warten zu müssen.
Aber die Warterei wurde belohnt. Endlich fuhr der Zug ein und ich stieg zu, suchte mir einen Sitzplatz und nahm eine Zeitung, die dort gestapelt lagen und die bestimmt ein anderer Fahrgast vor mir hier vergessen hatte. Ich vertiefte mich in den Finanzteil und als ich mit dem Stapel durch war, fuhren wir gerade Portland an. Jetzt war es nicht mehr weit. Die meisten Leute stiegen hier aus, einige neue kamen dazu. Viellicht, weil es hier viele Museen und andere Sehenswürdigkeiten gab wie das Oregon Museum auf Science and History oder das World Forestry Center.
Mir war alles Recht. Je weniger Passagiere im Zug, desto kleiner die Versuchung, sagte ich mir. Ich musste unbedingt meine Selbstkontrolle verbessern.

In Tacoma wurde es noch einmal voll, aber in Seattle stiegen fast alle Passagiere aus, so auch ich. Nervös sah ich mich am Bahnhof um. Die Gerüche – oder sollte ich Gestänke sagen – waren atemberaubend, im wörtlichen Sinn. Altes Frittenfett, Essig, menschlicher Schweiß, Rauch. Dann hatte ich genug und hielt die Luft an.
Mick war wahrscheinlich nicht einmal mit dem Zug gekommen, sondern mit dem Flugzeug, also standen die Chancen, hier seinen Geruch aufzunehmen, mehr als schlecht.
Die fremden Gerüche machten mich fast Blind für alles andere, was ziemlich frustrierend war. Wer sich nicht auf seinen Geruchssinn verlassen konnte in der Welt der Vampire, war so gut wie verloren.
Ich setzte mich auf eine Bank und dachte nach.
Wo sollte ich zuerst nach Mick suchen? Seattle war riesig. Ich wäre wahrscheinlich in hundert Jahren noch nicht fertig, nach ihm zu suchen, die Randbezirke und kleinen Nester wie Ellisville, Issaquah und Fall City nicht einbezogen.

Ich wurde erst wieder aus meinen Gedanken gerissen, als mich jemand ansprach.
„Äh... Verzeihung, alles in Ordnung mit Ihnen?“ ich zischte und fuhr hoch. Vor mir stand eine junge Frau Mitte zwanzig, die eine zerrissene Tasche über dem Arm trug und mich skeptisch musterte. Sofort hatte ich mich wieder unter Kontrolle und räusperte mich.
„Sie schleichen sich einfach so an mich heran...“ murmelte ich. Eigentlich hätte ich sie hören und riechen müssen, aber ich war zu sehr in Gedanken gewesen, als das ich es gemerkt hätte. Sie hatte mich erschreckt und für Sekunden war ich nicht Herr der Lage gewesen. Ich versuchte, es zu überspielen, aber ich schaffte es nicht. Bei ihrem Geruch lief mir das Wasser im Mund zusammen und ich musste mich beherrschen, um ihr nicht hier und jetzt die Zähne in den Hals zu schlagen.
Um mich abzulenken, sah ich mir die Frau genauer an und mein Blick fiel wieder auf die zerrissene Tasche.
„Sind Sie unterwegs angegriffen worden?“ fragte ich lächelnd und sah entzückt, wie sie rot wurde. Ihr Geruch in der Luft wurde stärker. Ich musste sie nur in die Bahnhofstoilette ziehen und...
Beherrschung, Josef, mahnte ich mich selbst. Beherrschung.
„Nun, angegriffen nicht direkt. Ich bin in der Zugtür hängen geblieben und...“
Ich hatte etwas erwidern wollen, aber ich wurde unterbrochen. Von meinem Handy. Und plötzlich präsentierte sich die Lösung aller Probleme auf dem Silbertablett. Mick rief an.

„Ach nein, wie schön. Hast du dich jetzt endlich entschieden, oder schmollst du noch?“ fragte ich, ließ ihm nicht mal eine Chance zu einer Begrüßung.
„Wer sagt, ich würde schmollen, Josef?“ fragte er zurück. Im Hintergrund war es still, kein anderes Geräusch drang durchs Telefon.
„Oh ich weiß nicht, du gehst nicht ans Telefon, du meldest dich nicht und ich hocke hier und versuche heraus zu finden wo du...“
„Hättest du Lust, mit mir und ein paar anderen Vampiren Baseball zu spielen?“ fragte er, ließ mich nicht einmal ausreden, noch erklärte er mir, was eigentlich los war.
„Das ist nicht dein Ernst, oder? Baseball? Kennst du die Leute überhaupt, mit denen du da spielst?“
„Naja, sie sind auch noch nicht so lange hier, und wir haben uns im Wald auf der Jagd getroffen und uns sofort gut miteinander verstanden, und ohne dich macht es nicht so viel Spaß, und wo du ja eh schon hier bist, dachte ich...“ Ich stutzte. Irgendwas war hier faul.
„Moment mal, woher weißt du, dass ich schon hier bin?“ Aber in der selben Sekunden dämmerte mir, woher er es wusste, und als er es aussprach, wurde meine Ahnung zur Gewissheit.

„Naja, Logan hat dein Handy geortet und mir vor ein paar Sekunden mitgeteilt, du stündest am Bahnhof. Aber ich bin mit dem Flugzeug gekommen, also stehen die Chancen schlecht, das du mich am Bahnhof findest. Zumal selbst wenn ich am Bahnhof gewesen wäre, die Spur längst kalt sein müsste, denn ich bin immerhin eine Weile länger hier als du.“
Aus irgendeinem Grund machte er mich furchtbar wütend.
„Weißt du was, steckt dir dein Baseballspiel sonst wo hin.“ zischte ich, legte auf und steckte das Handy weg. Erst jetzt sah ich wieder die Frau, die immer noch neben mir stand.
„Entschuldigen Sie...“ murmelte und musterte mich von oben bis unten, „sind Sie nicht Josef Kostan?“
Oh toll. Jetzt hatte ich schon in Seattle so was wie einen VIP-Status.
„Ja, bin ich.“ ich deutete einen Diener an. „Und Sie sind...?“ Sie wurde schon wieder rot, aber gerade war mir mein Durst egal.
„Sophia Diego. Und vielleicht sollten Sie wirklich mit ihrem Freund Baseball spielen gehen.“ sagte sie und lächelte. Ich grummelte leise, dann lächelte ich sie an.
„Hätten Sie nicht Lust, mich zu begleiten?“ fragte ich und das Lächeln wurde noch ein bisschen breiter. Normalerweise zerflossen die meisten Frauen bei diesem Lächeln, aber sie war nicht so. Sie blieb hart.
„Sie? Zu... zu dem Spiel, meinen Sie?“ fragte sie verdattert und ich nickte, immer noch lächelnd. Wenn das so weiter ging, hätte ich bald eine Maulsperre.
„Nein... nein, das  geht nun wirklich nicht. Ich... muss dann auch wieder weiter, verstehen Sie.“ sie zog einen Zettel aus der Tasche ihrer Blue Jeans und reichte ihn mir. Ihre Handynummer.
„Falls Sie noch jemanden für ein Spiel brauchen... ein anderes mal.“ sagte sie, drehte sich um und verschwand in der Menge.

„Ja...“ murmelte ich abwesend, „ein anderes Mal.“ ich wollte gerade gehen, da fiel mir etwas auf. Vor mir auf dem Boden lag ein Strumpfband. Ich hob es auf und roch daran. Das war ihres, ganz sicher. Es musste ihr aus der Tasche gefallen sein, als sie sich so hastig von mir entfernte.
Am Taxistand sah ich gerade noch, wie sie in eines der Taxis sprang und setzte mich in den Wagen dahinter.
„Folgen Sie ihrem Kollegen.“ sagte ich nach vorn. Wie in einem dieser Gangsterfilme, wo eine Verfolgungsjagd quer durch New York, London oder Kansas City inszeniert wird, bei dem einer oder beide Parteien sterben.
Wie kitschig. Nein, ich wollte ihr nur folgen. Ihr nur das Strumpfband wieder bringen und dann... Dann würde man sehen.
 
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