Meine Geschichten
  Ray
 
Ich hatte meine Sachen gepackt, allen Bescheid gesagt, die Bescheid wissen mussten, sämtliche Termine für die nächsten zwei Wochen gecancelt und vorsorglich so viel Blut getrunken, dass ich wahrscheinlich für die nächste Woche keinen Durst mehr hatte. Ich wusste genau, wie es sein würde, stundenlang in einem Zug eingepfercht zu sein, Menschen dicht an dicht.
Der Vorteil dabei wäre gewesen, sich nicht großartig bewegen zu können, aber um dem Nebenmann mit den Zähnen zu nahe zu kommen, würde es wohl reichen.
Der Nachteil: Es sahen definitiv zu viele Menschen zu. Ich würde das ganze Zugabteil umbringen müssen, und wo hin dann mit den ganzen Leichen?
Also sorgte ich gründlichst vor und war sicher, das der Durst mich nicht überwältigen konnte. Gerade jetzt fühlte ich mich aber so satt, das ich kaum aus meinem Plastiksitz hochkam, als der Zug nach Seattle einfuhr. Ich trug meine Reisetasche hinter mir her. Der Grund, eine Zugreise statt eines Fluges auf mich zu nehmen, war einfach. Mick kannte niemanden in Seattle, zumindest mit Sicherheit niemanden wie Guillermo, der ihm Blutkonserven beschaffen konnte, wann er sie brauchte, also führte ich in der Kühltasche, die er mir vor seiner Abreise hinterlassen hatte, etwas A-Positiv für ihn mit. Am Flughafen wäre ich damit wirklich nicht durch den Zoll gekommen, aber bei der hiesigen Bahn kontrollierte niemand das Gepäck.

Ich fand keinen Sitzplatz, also musste ich stehen. Verkrampft mühte ich mich, nicht zu tief einzuatmen. Der Geruch von Schweiß so vieler Menschen stank schlimmer als das Bahnhofsklo, an dem ich vorbei gelaufen war. Und allein das Vorbeilaufen hatte gereicht.
Menschen waren manchmal so widerlich. Ich hielt mich an einer dieser Halteschlaufen fest. Neben mir wedelte sich ein korpulenter kleiner Herr mit einer Zeitung Luft zu, und mit jedem Windstoß in meine Richtung wurde auch der Schweißgeruch zu mir herübergeblasen, so stark, dass ich versucht war, mir die Nase zu zu halten, aber ich hatte die Hände voll. Die Kühltasche mit den Blutkonserven klemmte zwischen meinen Füßen, der Trageriemen der Tasche schnitt in meine Hand, aber ich merkte es nicht. Ich fühlte mich seltsam fehl am Platz mit meinem Designeranzug und den teuren Lederschuhen zwischen Menschen in Feinripp-Hemden, an denen man den Achselschweiß besonders schön sah, kurzen Shorts und – der totale Stilbruch – Sandalen mit Tennissocken.

Ich rümpfte die Nase. Menschen hatten teilweise so gar keinen Geschmack, was Kleidung anging. Ich war froh, das ich es besser wusste.
Endlich, nach Stunden, in Sacramento wurde es langsam leerer und ich fand einen Sitzplatz. Ich vergewisserte mich, das die Blutkonserven noch in Ordnung waren. Irgendwo würde ich über Nacht  Rast machen und die Konserven in den Kühlschrank legen müssen. Ich kannte einen Vampir in Santa Rosa, also stieg ich aus, als der Zug dort hielt. Ich war froh, wieder frische Luft atmen zu können und merkte zu meinem Horror, das der Schweißgeruch auch an meinen Kleidern haftete.

Zum Glück hatte ich Kleidung zum Wechseln dabei. Die Fahrt bis zu Rays Haus war eine Tortur. Der Taxifahrer – Mexikaner, dem Aussehen und Akzent nach zu urteilen – schmetterte während des Fahrens irgendwelche Arien, wahrscheinlich landestypische Volkslieder. Am Ende der fahrt verlangte er einen unerhört hohen Preis, den ich zähneknirschend bezahlte.
Ich stieg aus. Ray war einer der wenigen Vampire, die über die Jahre keinen Luxus anzuhäufen brauchten. Oder besser gesagt: Er wollte es nicht. Lebte in einem kleinen, bescheidenen Häuschen am Rand dieses Nestchens mit seinen knapp 156.000 Einwohnern. Ich schleppte meine last die Treppe nach oben, stellte die Taschen ab und klingelte. Lange hörte man nichts, dann hörte ich Schritte und die Tür ging auf. Ray lächelte warm, als er mich sah und breitete die Arme zu einer Umarmung aus, die ich geduldig über mich ergehen ließ.
Endlich ließ er wieder von mir ab.
Ray war mit Ende vierzig Vampir geworden, das aber vor fast dreihundert Jahren. Er hatte kurze braune Haare, die stellenweise grau waren, freundliche graue Augen und ein Lächeln für alles und jeden.
„Josef Kostan. Lange nicht mehr gesehen, alter Junge. Wie geht’s, wie steht's?“ fragte er, während er mich reinließ und die Tür zu machte.
„Es ging zumindest mir noch nie besser. Abgesehen von der Luftverpestung in amerikanischen Überlandzügen geht es mir wunderbar. Ich bin auch eigentlich nur aus einem Grund hier.“ Ich deutete auf die Kühltasche zwischen meinen Füßen.
„Futterlieferung für einen Freund. Aber ich habe noch ein gutes Stück Weg vor mir und da dachte ich, vielleicht könnte ich bei dir die Kühlakkus erneuern und das Blut in die Tiefkühlung stellen, damit es nicht ranzig wird? Du weißt, wie schlecht ranziges Blut schmeckt.“ Ich sah aus dem Augenwinkel, wie es ihn bei dem Gedanken schüttelte. Er führte mich in die Küche, wo ein Kühlschrank samt Gefrierkombination stand.
„Fühle dich wie zu Hause. Und während die Akkus aufladen und das Blut wieder trinkbare Temperatur erreicht, kannst du mir vielleicht sagen, warum du hier bist.“ Seine grauen Augen funkelten belustigt und ich seufzte ergeben.
„Vor dir konnte man sich noch nie verstellen, oder?“ Er lachte dunkel.
„Verstellen vielleicht, gewinnen nie.“ sagte er und führte mich ins Wohnzimmer.
„Scotch?“ fragte er, während ich mich auf die Couch setzte. Ich nickte abwesend. Er füllte zwei Gläser und gab einige Spritzer Blut dazu, die notwendig waren, um uns das Getränk überhaupt schmecken zu lassen.
Er reichte mir mein Glas und ich trank einen Schluck, bevor ich es auf den Korkuntersetzer zurückstellte, den er mir hin schob.
„Also, warum bist du hier? Du lebst doch eigentlich zur Zeit in Los Angeles, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, oder?“ fragte er und trank ebenfalls einen Schluck.
„Ja, eigentlich lebe ich in Los Angeles, aber ein Freund von mir ist vor ein paar tagen überstürzt nach Seattle aufgebrochen und ich reise ihm nach, um ihn wieder zurück zu holen. Die Details musst du nicht wissen.“ sagte ich und fuhr mit einem Finger am Rand des Glases entlang. Es erzeugte einen hohen, zittrigen Ton.
„Und damit er da draußen nicht unschuldige Menschen anfallen muss, was er ohnehin nur im Notfall tut, habe ich ihm sein essen mitgebracht. Er hat was dagegen, Blut von lebenden Menschen zu trinken.“ fügte ich im Verschwörertonfall hinzu. Ray nickte wissend.
„Also trinkt er nur Blutkonserven. A-Positiv. Und die bringe ich ihm jetzt vorbei.“

Er sah mich eine Weile nachdenklich an. „Ich denke nicht, das heute noch ein Zug geht, der dich wenigstens bis nach Medfort bringt, also bleibst du die Nacht über hier.“ Er sah meinen Gesichtsausdruck und hob die Hände.
„Natürlich nur, wenn das für dich okay ist. Ich zwinge dich ja nicht, aber die Nacht in einer Kühltruhe zu verbringen statt auf dem Bahnhof, kommt mir angenehmer vor. Frühstück ist natürlich inklusive.“
Ich lachte.
„Überredet.“ Ich trank mein Glas aus und sah auf die Uhr. „Also, wo steht die Gästetruhe? Stundenlang zwischen schwitzenden, stinkenden Menschen eingepfercht zu sein, geht ziemlich an die Substanz. Ich habe erst in Sacramento einen Sitzplatz bekommen.“ erklärte ich entschuldigend und erhob mich. Ich nahm meine Reisetasche mit in den ersten Stock, wo drei Einzelkühltruhen in einem Raum standen und stellte sie in eine Ecke.

Als ich in einer der Kühltruhen lag, hatte ich noch etwas Zeit zum Nachdenken, bevor mich die Totenstarre in ihren Bann schlug.
Was ist Micks Absicht? Ob er gemerkt hat, dass ich auf seiner Spur bin? Vielleicht ist er gar nicht mehr in Seattle und wenn ich dort ankomme, war alles um sonst? Oder...
Ich kam gar nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken, denn da übermannte mich die Totenstarre und ich sank ins Vergessen.
 
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