Meine Geschichten
  Das Grab
 
Es vergingen ein paar Tage, in denen ich nicht mehr weiß, was passiert ist. Vielleicht habe ich ab und zu etwas getrunken, bin vielleicht ziellos durch die Straßen gelaufen. Die Zeit nach dem Feuer ist für mich nur noch ein Muster aus Farben, Gerüchen und Stimmen. Paula war an meiner Seite, fast ständig. Sie konnte ansatzweise verstehen, was in mir vorging, denn sie war lange zeit Sarahs Pflegerin gewesen.
Sie saß bei mir, redet mit mir, aber die Worte erreichten mich nicht. Das hätten sie vielleicht, hätte ich zugehört, aber ich konnte nicht. Ein paar der Angestellten und anderen Leute, die im Haus lebten, waren in einem Hotel untergekommen, und Paula hatte mich praktisch gezwungen, sie zu begleiten.

Eines Morgens saß ich auf dem Bett, das ich gar nicht brauchte – wann ich zuletzt eine Kühltruhe von innen gesehen hatte? Ich weiß es nicht – und hielt den Blick auf das Foto gerichtet, dass ich gemacht hatte, bevor sie...
Ich schüttelte den Kopf. Nicht daran denken, ermahnte ich mich selbst. Sie hatte gelacht und gefragt, ob ich überhaupt auf dem Foto zu sehen sein würde...
Ich senkte den Kopf und stöhnte auf. Zwar hörte ich, wie Paula hereinkam, aber ich sah nicht auf. Zuerst galt es, die Tränen zu zähmen, die in meinen Augen brannten und mein Innerstes zu überfluten drohten. Es war, als würde ich volllaufen wie ein Wasserglas, das kurz vor dem Überschwappen stand.
Paula setzte sich nicht, sie blieb vor mir stehen.
„Mr. Kostan... ich denke, Sie wissen, das die Beerdigung in einiger Zeit anfängt und... ich wollte nur nachsehen, ob Sie noch etwas brauchen.“ sie klang zaghaft, fast als hätte sie Angst.
Ich sah auf und wischte mir verstohlen über die Augen, räusperte mich.
„Nein... ich... ich musste nur gerade...“ ich schluckte. Sie nickte verständnisvoll und schloss die Tür wieder hinter sich. Langsam stand ich auf.

Am Kleiderschrank hing ein schwarzer Anzug, der vielleicht einmal Sarahs Vater gehört haben konnte. Nein, das war ein neueres Fabrikat. Vielleicht hatte Paula ihn auch für mich irgendwo geliehen.
Ich zog keine Sachen aus und faltete sie sorgfältig zusammen, bevor ich in das blütenweiße Hemd stieg, mir die schwarze Krawatte umband und in Hose und Sakko kletterte. Der Stoff war angenehm, aber ich hatte das Gefühl, er enge mich in meinen Bewegungen ein.
Ich betrachtete mich noch einmal im Spiegel, dann ging ich die Treppe herunter. Meine Sonnenbrille hatte ich in die Brusttasche des Sakkos gesteckt und als ich vor dem Hotel in die Sonne trat, zog ich sie an und beschirmte gleichzeitig mein Gesicht mit der Hand.

Paula hielt sich immer noch neben mir und drückte aufmunternd meinen Arm.
Ich lächelte ihr aus dem Mundwinkel kurz zu, bevor ich in den ersten schwarzen Wagen stieg, der uns zur Kirche bringen würde. Ich hätte dort hin laufen können, hätte ich gewollt, aber Sarahs letzter Gang begann erst von der kleinen Kapelle aus bis zu ihrem Grab.
Innerlich lachte ich traurig. Beim Gedanken an ein Grab sollte man als Vampir eigentlich nicht erschauern. Früher hatten die Menschen geglaubt, Vampire würden sich Nacht für Nacht aus ihrem Grab erheben um Menschen das Blut auszusaugen – vornehmlich Jungfrauen – und beim ersten Hahnenschrei wieder in ihrem Sarg verschwinden. Aber wie konnte man keine Angst vor diesem letzten Gang haben, wenn er doch bedeutete, jemanden zu verlieren?

Ich hatte Sarah schon verloren, schon als ich ihr vor fast sechzig Jahren die Zähne in den Hals schlug, aber sie in den Armen zu halten, ihre gebrochenen Knochen zu spüren, war nochmal etwas anderes gewesen. Tiefer. Realer. Nach dem Biss und der misslungenen Verwandlung hatte ich immer noch glauben können, dass es vielleicht einen Weg gab, sie zu retten. Nicht so hier. Wie konnte ich jemanden retten, dessen Rückgrat gebrochen war? Sie war schon tot gewesen, als ich sie in den Armen gehalten hatte. Hätte ich versucht, sie zu verwandeln, und es hätte nicht funktioniert, hätte ich ihr Leiden nur unnötig verlängert.
Irgendwann muss man ziehen lassen, was man liebt. Dachte ich.
Der schwarze Wagen hielt und ich stieg aus, Paula immer noch an meiner Seite. Sie war so etwas wie mein Schutzengel, nur ihretwegen war ich bisher nicht als nervliches Wrack zusammengebrochen. Vielleicht würde sich das schon bald ändern.

Wir betraten die Trauerhalle, die gar nicht Platz für all diejenigen hatte, die gekommen waren. Zusammen mit Sarahs engsten freunden und Verwandten saß ich in der ersten Reihe.
Der Pastor vorn räusperte sich und fing an zu sprechen, aber ich nahm es gar nicht richtig wahr. Ich war zu sehr in Trance, in einem Glaskäfig gefangen. Genau so hatte ich mich gefühlt, als ich sie unter dem Schutt hervorgezogen und realisiert hatte, dass sie wirklich tot war. Diese erschlagende Realität drosch auch jetzt auf mich ein, prügelte mich nieder, bis ich dachte, ich könnte mich genauso gut mit ihr in den Sarg legen und sterben, dann war es vorbei. Mein Gesicht blieb ausdruckslos, als ich als einer der ersten nach vorn zum Sarg ging und ihn an einem der Tragegriffe fasste. Sonst hatte man für so etwas Sargträger, aber ich hatte mich standhaft geweigert, nicht an ihrer Seite zu sein und ihr den letzten Weg zu erleichtern.

Zusammen gingen wir den schotterbestreuten Weg entlang, und ich achtete besonders darauf, keinen Fehltritt zu machen. Irgendwie wusste ich, dass es keinen Sinn hatte, denn sie spürte es nicht mehr, ob wir über eine Bodenwelle stolperten oder ein Schlagloch, ob der Kies unter unseren Tritten hochspritzte, störte sie nicht mehr. Jetzt liefen mit doch Tränen die Wangen hinab, die ich so lange zurück gehalten hatte. Ich hatte nicht weinen wollen, aber ich konnte nicht anders.
Vor dem Grab setzten wir den Sarg ab und ich zog mich zurück.
Mit langen Stangen und Seilen ließen sie den Sarg in die Tiefe Grube herunter und jeder nahm eine Hand voll dunkler Friedhofserde von dem Haufen und warf sie in die Grube. Manche warfen Rosenblüten, von denen ein geradezu berauschender Duft aufstieg. Ich selbst hatte noch ein letztes Versprechen einzulösen.
Aus meiner Tasche zog ich ein Messer und schnitt mir damit tief in den Daumenballen der rechten Hand, bevor ich die Faust zusammenpresste und ein paar dunkle Tropfen auf den Sarg fielen. Das mich ungefähr zweihundert Leute anstarrten, war mir egal.
Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber wenn ja, dann habe ich dir gerade das letzte Geschenk gegeben. Mein Blut. Vielleicht nützt es dir nichts mehr im Tod, aber nimm es als Zeichen, dass ich deinen Mörder finden und zur Strecke bringen werde, damit du in Frieden ruhen kannst.

Langsam leerte sich der Platz. Man kondolierte mir offen zu dem Verlust, und ich nahm es hin, manchmal mit einem Lächeln, manchmal mit einem leisen Dankeswort. Eigentlich war es mir egal, was sie sagten. Ich hörte es nicht wirklich.
Schließlich stand ich allein an ihrem Grab und sank davor auf die Knie. So saß ich immer noch da, als die Totengräber längst gegangen und das Grab mit Erde bedeckt war und immer noch, als es dunkel wurde und ich Schritte hörte. Jemand blieb neben mir stehen und legte mir die Hand auf die Schulter. Ich schluckte, sah hoch und erkannte Mick, der neben mir niederkniete, ein Kreuz schlug und mich dann umarmte.
Das war zu viel. Der Staudamm in meinem Innern brach, und ich glaube, ich habe noch nie in meiner ganzen Existenz so viel geweint wie in diesem Moment. Es tat weh. Entsetzlich weh. Aber Mick kniete neben mir, ohne ein Wort, und hielt mich einfach nur fest, während ich an seiner Schulter das Unrecht dieser Welt verfluchte.
 
  Heute waren schon 27 Besucher (33 Hits) hier!  
 
Diese Webseite wurde kostenlos mit Homepage-Baukasten.de erstellt. Willst du auch eine eigene Webseite?
Gratis anmelden