Meine Geschichten
  Die ganze Geschichte
 
Ich glaube, ich hätte es aus eigener Kraft nicht mehr zurück nach Hause geschafft. Aber was hielt mich noch in New York? Der Einzige Mensch, zu dem ich immer hatte zurückkehren können, war tot, das Haus abgebrannt und es würde Wochen, Monate wenn nicht gar Jahre dauern, es wieder aufzubauen.
Ich ließ mich bereitwillig von Mick davon schleifen, er brachte mir zu trinken, wann immer ich es nötig hatte, er saß einfach nur stumm neben mir, wenn ich schwieg und hörte zu, wenn ich etwas auf der Seele hatte. Er drängte mich nicht, ihm alles zu erzählen, er zwang mir nichts auf und er versuchte nicht zwanghaft, mich zum Lachen zu bringen. Er war einfach nur da und half mir über die Tage hinweg.

Aber irgendwann war selbst für uns die Zeit gekommen, da wir zurück nach Seattle mussten.
Mick buchte Plätze in einer gewöhnlichen Passagiermaschine für uns, die uns direkt zurück nach Seattle brachte und saß neben mir, schwieg und warf mir von zeit zu zeit Blicke zu. In einem metallenen Flachmann führte er etwas zu trinken mit, und davon gab er mir, so oft ich es verlangte.

Gerade jetzt zitterte die Flasche in meiner Hand und ich hatte den Blick starr auf den Sitz meines Vordermannes gerichtet. Mick sah es und nahm mir die Flasche aus den Händen, um sie zu zu schrauben, bevor etwas daneben gehen konnte.
In meinem Kopf lief die ganze Szene noch einmal ab. Wie ich Sarah zwischen den Trümmern gefunden hatte. Das Gefühl, eine Puppe im Arm zu halten und nicht sie. Dass sie sicherlich gleich irgendwo hervorgesprungen kommen, mir um den Hals fallen und „April, April!“ rufen würde. Das Gefühl, auch, als ich sie draußen auf den Vorplatz gelegt hatte, das das alles nur ein schlechter Traum sei, wurde ich nicht los.
Wieso war ich hier? Wieso war ich nicht bei ihr und saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand, wartete auf ein Lächeln, eine Geste, eine Berührung?
Jemand rüttelte sanft an meiner Schulter. Langsam fand ich wieder zurück in die Wirklichkeit.
„Josef?“ fragte Mick leise und ich blickte in ein paar grüne, besorgter Augen, die mich fixierten. Ich schluckte und wandte den Blick ab.
„Schon okay. Ich dachte nur gerade...“ Ich biss mir auf die Lippe, bis ich Blut schmeckte und schwieg. Er erwiderte nichts darauf, drückte nur aufmunternd meine Schulter und schaffte ein kleines Lächeln. Ich zwang meine Gesichtsmuskeln, zu kooperieren. In den Tagen des Heulens und Trauerns hatte ich fast vergessen, wie Lächeln ging. Mit einiger Anstrengung brachte ich eine gequälte Grimasse zustande, aber Mick drängte mich nicht weiter. Irgendwann wurde es mir zu viel. Ich wollte nur noch in meinen Freezer und schlafen. Auch wenn ich wusste, das dann vermutlich die Träume wiederkommen würden, die ich schon die ganze Zeit hatte.

Irgendwann fielen mir die Augen zu und da ich wusste, dass wir sicherlich noch ein oder zwei Stunden fliegen würden, lehnte ich den Kopf gegen Micks Schulter und versuchte, zu schlafen.
Versuchte, wohlgemerkt. Aber die Träume kamen wieder, holten mich ein, hielten mich gefangen, und ich kam einfach nicht mehr frei.
Es war heiß, und wurde beständig immer heißer, wie in einem Backofen. Ich sah mich selbst durch ein schier endloses Meer aus Sand waten und fragte mich gleichzeitig im Traum, wie ich dort hin geraten war. Man setzte einen Vampir nicht grundlos ungeschützt der Sonne aus. Irgendwann würde mein Kreislauf nachgeben und ich würde austrocknen. Vielleicht würde ich im Gehen Feuer fangen und der heiße Wüstenwind würde meine Asche in alle Himmelsrichtungen verwehen.
Asche! Plötzlich änderte sich das Bild. Ich stand nicht mehr in einem Meer aus Sand, das kein Ende zu nehmen schien, sondern in einem brennenden Gebäude. Meine Lungen protestierten gegen den Qualm und den Aschenstaub, den ich bei jedem Atemzug einatmete. Ich lief weiter durch die brennenden Trümmer und suchte offenbar nach etwas, aber ich wusste nicht, nach was. Stimmen hallten in meinem Kopf wider wie von Felswänden. „...Du hast es versprochen! Dass du mich zu dem machst, was du bist....“ Und eine andere Stimme, die ich im Schock als meine eigene erkannte, antwortete. „Es wäre besser, du wärst tot....“ Und dann sah ich sie.
Schreiend schreckte ich hoch. Dass mich ca. sämtliche Passagiere anstarrten, als sei ich irre geworden, kümmerte mich nicht. Ich atmete rasch und heftig und versuchte mit aller Macht, klar zu werden, wo ich war, und dass mich der Traum nicht immer noch gefangen hielt.
Ich musste um mich geschlagen haben, denn zwei Hände hielten meine Arme gepackt.
„Josef! Josef, wach auf!“

Verwirrt starrte ich Mick an. Auf seiner rechten Wange zeichneten sich dunkelrot alle fünf Finger einer Hand ab und ich senkte den Blick und schluckte.
Mir wurde klar, dass ich ihm im Traum eine Ohrfeige verpasst haben musste, aber es schien ihn nicht zu stören. Als ich seinen Augen wieder begegnete, sah ich darin nur tief empfundene Sorge für den Freund.
„Das“, ich zeigte auf den Handabdruck in seinem Gesicht, „tut mir Leid. Ich wollte dich nicht schlagen.“ gab ich kleinlaut zu und er lächelte.
„Ich bin froh, dass du mir nicht den Kiefer gebrochen hast oder versucht hast, mich zu beißen.“ sagte er leise. Plötzlich machte das Flugzeug einen Ruck nach unten. Die Welt und ihre Luftlöcher... dachte ich genervt und beruhigte mich langsam wieder. Die anderen Fluggäste schüttelten teilweise die Köpfe über mich, aber ich sah nicht hin. Mick spähte auf die Uhr an seinem Handgelenk.
„Wir landen in ein paar Minuten.“ gab er kund, und schon kam die Bordansage, angeschnallt zu bleiben, die Sitze aufrecht zu stellen und so weiter. Ich hörte gar nicht richtig zu und war froh, als wir aus der kleinen, engen Blechkiste ausstiegen und in die warme Seattler Sonne traten.

Mick hatte allerdings mit keinem Wort erwähnt, dass Sophia am Flughafen auf uns warten würde. Sie sah meinen Blick, der abgestumpft und seltsam leer war, klappte den Mund auf. Da sah ich sie richtig an und sie machte den Mund ganz schnell wieder zu. Für eine Sekunde war sie versucht, mir um den Hals zu fallen, das sah ich in ihrem Gesicht, aber ich zog die Lippen zurück und grollte einmal kurz und warnend.
Da ließ sie es sein. Wir nahmen Mick notgedrungen in die Mitte, weil Sophia sich hütete, in meine Nähe zu kommen.
Ich rutschte im Auto auf die Rückbank, während Mick fuhr. Er ließ uns bei Sophia aussteigen und kam noch mit hoch, warum, wusste ich nicht. Vielleicht, weil er uns nicht allein lassen wollte, aus Angst, ich könnte sie beißen oder ihr anderweitig wehtun.
Langsam setzte ich mich auf die Couch und mied die Blicke der anderen beiden. Es brannte Sophia auf der Seele, zu erfahren, was passiert war, aber sie fragte mit keinem Wort.

Mick saß neben mir und umarmte mich halb. Auch nach Tagen, die seit der Beerdigung und erst recht seit dem Brand vergangen waren, war der Schmerz noch zu stark, um darüber zu sprechen. Aber irgendwann musste es heraus. Mick sah mich auffordernd an.
Sie hat ein recht, es zu erfahren, sagte sein Blick. Zuerst hatte er von meiner Seite weichen und aufstehen wollen, um sich taktvoller weise zurück zu ziehen, aber ich hielt seinen Arm umklammert wie ein Schraubstock.
Leise räusperte mich und bedeutete Sophia, sich zu setzen. Das zu erklären, konnte länger dauern.
„Hat Mick dir erklärt, warum ich nach New York musste, Sophia?“ fragte ich leise und sah auf meine Schuhe. Sie schwieg einen Moment.
„Er hat gesagt... du müsstest wegen einer dringenden Angelegenheit unverzüglich nach New York, mehr nicht.“ gestand sie stotternd.
Ich seufzte leise und Mick schaltete sich ein.
„ich wusste nicht, ob du willst, dass sie es erfährt, deswegen... hab ich nur das nötigste gesagt.“ erklärte er und mit einem Mal war ich dankbar.
Auch wenn das hieß, dass ich ihr alles erklären musste.

Ich schluckte und atmete tief durch.
„Also... vor über fünfzig Jahren lernte ich eine junge Frau kennen, Sarah Whitley. Wir trafen uns an der Grand Central Station und warteten beide auf einen Zug. Sie bat mich um Feuer.“ ich lachte rau.
„Und als ich sie sah... wusste ich es. Sie war es, mit der ich mein leben verbringen wollte, oder besser gesagt, meine Existenz. Ich glaubte, vor ihr verbergen zu können, was ich war, aber irgendwann merkte ich, dass sie es wusste. Und es war ihr egal. Und je länger wir zusammen waren, desto mehr begann ich zu glauben, dass der einzige Grund, warum ich zum Vampir wurde der war, lange genug leben zu können, um sie zu treffen. Ein Jahr lang ging alles gut. Immer wieder hatte sie mich angefleht, sie zu verwandeln, aber ich weigerte mich. Ich hielt es für zu gefährlich, aber sie gab einfach nicht auf.“ Ein weiteres, freudloses Lachen.
„Eines Tages dann sagte ich zu. Ich wusste, sie würde nicht aufgeben, bis sie hatte, was sie wollte, und so wollte ich es versuchen. Ich biss sie. Ich trank ihr Blut, saugte sie aus und gab ihr mein Blut zu trinken.“ ich schluckte und musste blinzeln.
„Aber es klappte nicht. Sie wachte nicht wieder auf. Sie alterte nicht, starb nicht. Sie lag über fünfzig Jahre einfach nur im Koma. Ich habe immer gehofft, das eines Tages die Medizin, oder ein Wunder, es schafft, sie mir zurück zu bringen, und als ich den Anruf erhielt, sie wäre aufgewacht, war ich überglücklich.

Meine Sarah lebte wieder, ich konnte sie wieder in die Arme schließen.“ ich wischte mir hektisch über die Augen. „Als ich dort war, bemerkte ich gleich, dass sie wieder ein Mensch war. Oder immer noch, ich weiß es nicht. Wir haben uns ziemlich gestritten, weil sie mich bat, die Verwandlung erneut zu versuchen. Aber wie konnte ich das? Ich hätte sie nicht weitere fünfzig Jahre leiden sehen können. Sie verwies mich des Hauses und ich könnte mich bis an mein Lebensende dafür verfluchen, dass ich wirklich gegangen bin. Ich denke immer, wenn ich dort geblieben wäre, wäre das nicht passiert.“ Mick reichte mir ein Taschentuch und dankend nahm ich es an.
„Als ich zurückkam stand das Haus in Flammen. Draußen bei denen, die es aus dem Haus geschafft hatten, war Sarah nicht, also ging ich in das brennende Haus und holte sie.“ Ich schwieg ein paar Sekunden, die ich zu Stunden zu dehnen schienen. Sophia hatte Tränen in den Augen, auch Mick musste ein paar Mal heftig blinzeln, soviel bekam ich mit.
Ich ersparte mir eine detailreiche Beschreibung der weiteren Ereignisse.
„Ich konnte ihr nicht mehr helfen.“ schloss ich meinen Bericht, auf den sich Grabesstille senkte. Schließlich traute Sophia sich doch näher an mich heran und setzte sich neben mich. Zögerlich nahm sie mich in den Arm und ich ließ es geschehen. Ich hörte, wie Mick aufstand und davon ging. Erst als ich sicher war, dass er nicht mehr da war, konnte ich weinen.

Sophia verstand mich. Sie hielt mich fest, bis der Anfall vorüber war. Und unter meiner Trauer spürte ich, wie ein neues Gefühl in meiner Brust aufkeimte wie ein Pflänzchen, das das erste Mal die ersten, zarten Blätter durch das Erdreich gen Sonne schiebt.
 
  Heute waren schon 78 Besucher (96 Hits) hier!  
 
Diese Webseite wurde kostenlos mit Homepage-Baukasten.de erstellt. Willst du auch eine eigene Webseite?
Gratis anmelden