Meine Geschichten
  Nur ein Moment in der Zeit
 
Der eilends bestellte Jet brachte mich langsam – viel zu langsam für meinen Geschmack – meinem Ziel entgegen. Mein ganzer Körper stand unter Strom und das Champagnerglas in meiner Hand zitterte kaum merklich.
Man sollte meinen, wo ich fast 55 Jahre auf etwas gewartet hatte, das mir mit der zeit immer unwahrscheinlicher vorkam, konnte ich auch noch die paar Stunden warten, die der Jet brauchen würde um die strecke von Seattle nach New York zu bewältigen.
Ich konnte es nicht. Ging es nach mir, würden wir mit Überschallgeschwindigkeit fliegen müssen, um rechtzeitig da zu sein.

Unsinn, schalt ich mich selbst. Selbst wenn ich eine Woche brauchen würde, um anzukommen, Sarah würde immer noch da sein. Sie würde auf mich warten. Wie ich die ganzen letzten endlosen Jahre auf sie gewartet hatte.
Sie würde mich mit einem Lächeln auf den Lippen begrüßen und es würde sein, als wären die letzten Jahre nie gewesen. Ich trank einen Schluck aus dem Champagnerglas, dessen Inhalt ich vorher „aromatisiert“ hatte, um überhaupt etwas zu schmecken.
Ob sie immer noch wusste, wer oder was ich war? Darüber hatte ich die ganzen letzten Stunden nachgedacht, und ich dachte immer noch darüber nach, als das Flugzeug langsam zur Landung ansetzte.
Was, wenn sie nicht mehr wusste wer ich war? Oder was ich ihr angetan hatte? Oder was, wenn sie es wusste und bei meinem Anblick entweder in Ohnmacht oder schreiend davonlaufen würde?
Ich schüttelte den Kopf und dehnte die verspannten Muskeln in meinem Nacken. Ich sollte erst einmal sehen, wie die Lage vor Ort war, dann konnte ich immer noch entscheiden, was zu tun war.

Trotzdem hatte ich Angst. Ich hatte Angst vor dem, was mich erwarten würde. Und ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn sich meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten würden.
Ich rief mir vom Flughafen aus eine Limousine, die mich geradewegs vor das Haus der Whitleys brachte. In New York hatte sich seit meinem letzten Besuch mit Mick und Beth nichts verändert. Gut, vielleicht waren ein paar mehr Wolkenkratzer wie Pilze aus dem Boden geschossen, aber gerade heute hatte ich für so etwas keinen Blick und keine Zeit. Ich konzentrierte mich ganz und gar auf mein Ziel.
Vor dem Haus der Whitleys bezahlte ich den Fahrer der Limousine und stieg aus. Meine Sonnenbrille richtend, lief ich die Stufen nach oben und klopfte das verabredete Zeichen gegen das Holz des Rahmens.

Es dauerte eine Weile, in der ich vor Anspannung sicher gestorben wäre, hätte ich gekonnt, bis die Tür aufging und mir Paula, die Haushälterin der Whitleys, die Tür aufmachte.
„Mr. Kostan. Miss Whitley erwartet sie bereits.“ sagte sie lächelnd und bat mich herein. Sie nahm mir den Mantel ab und ich steckte die Sonnenbrille in die Tasche meines Hemdes. Nervös rieb ich meine Hände aneinander, sie waren kalt, kälter als gewöhnlich. Mein Blick sirrte im Raum umher, aber heute gab es keinen Grund zur Beunruhigung, heute würde alles gut werden, niemand würde versuchen, mich oder irgendwen anders umzubringen.
Paula sah meinen Blick und lächelte freundlich.
„Nervös, Mr. Kostan?“ fragte sie und lächelte noch ein bisschen mehr. Ich nickte nur stumm, weil ich das Gefühl hatte, mich übergeben zu müssen, sollte ich es wagen den Mund aufzumachen.
„dazu gibt es doch keinen Grund. Miss Whitley wartet schon ungeduldig auf Sie, Sie sollten sie nicht zu lange warten lassen.“ sagte sie warm und zwinkerte mir zu. Ich lächelte leicht zurück, aber meine Hände zitterten. „Ist sie... ist sie in ihrem Zimmer?“ fragte ich mit vor Aufregung heiserer stimme. Sie nickte nur und ließ mich allein. Darauf vertrauend, dass ich den Weg zu dem Zimmer meiner Geliebten auch allein fand.

Ich fand es und stieß die Tür vorsichtig auf, lugte um den Spalt herum ins Zimmer. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett und bürstete ihre langen, tiefroten Locken. Das Sonnenlicht, das durch eines der hohen Fenster fiel, brachte ihr Haar, ihre ganze Erscheinung zum Leuchten. Und da war sie wieder. Mein Engel. Mein helles, strahlendes licht, dem niemand die Wärme nehmen konnte, oder die Helligkeit, mit der sie strahlte.
Noch hatte sie mich nicht gesehen. Sie zählte die Bürstenstriche, und bei einhundert hörte sie auf. Sie steckte die Haare hoch, wie ich es immer an ihr gemocht hatte. Meine Hand wanderte in meine Tasche, in der ich das rote Samtbeutelchen mit der kette verwahrte. Ich hatte sie all die Jahre aufgehoben, um sie ihr eines Tages wiedergeben zu können, dieser Augenblick schien nun zu kommen.
Ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen. „Du musst nicht dort draußen stehen, Charles. Komm doch herein.“ Ihre Stimme.... wie hatte ich in über fünfzig Jahren en Klang ihrer Stimme vergessen können? Jetzt strömten zusammen mit dem Klang, ein Klang wie Musik, tausend und abertausend Bilder auf mich ein. Allein meinen früheren Namen aus ihren Mund zu hören, ließ mich fast wohlig seufzen, aber ich unterdrückte es gerade noch so.

ich schob die Tür noch ein Stück auf und glitt durch den Spalt. Sie stand auf, kam zu mir herüber und legte mir die Arme um die Schultern.
„Du warst gar nicht lange fort. Hattest du Sehnsucht nach mir?“ fragte sie und legte den Kopf schief um mich anzulächeln. Ich stand stocksteif und rührte mich nicht. Mein ganzer Körper wurde taub, mein Gehirn schien jemand in flüssigen Stickstoff getaucht und anschließen in tausend Stücke zerschlagen haben, denn ich konnte nicht mehr klar denken. Nur etwas rastete ein.
Sie wusste es nicht. Sie weiß nicht, wie viel zeit vergangen ist... registrierte ich geschockt.
Der Griff um meine Schultern wurde fester, drängender.
„Charles? Charles, was...“ ich legte ihr den Finger auf die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. Ich zog sie mit zum Bett herüber und setzte mich darauf. Wortlos gab ich ihr zu verstehen, das selbe zu tun und sie setzte sich neben mich, den Blick immer noch besorgt auf mich gerichtet. Ich räusperte mich, um die Kehle frei zu bekommen. Am liebsten hätte ich geweint und gleichzeitig all das Unrecht dieser Welt verflucht.
„Du... du weißt nicht mehr, was passiert ist, oder?“ fragte ich schließlich leise und sie runzelte die Stirn und nahm mein Gesicht in ihre wunderbar zarten Hände, um mir in die Augen sehen zu können. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Nein, Charles, ich...“ sie runzelte die Stirn und dachte nach. Dann sah sie mich wieder an.
„Ich habe mich hingelegt, weil ich müde war und du hast... du musstest... du...“ ich schüttelte energisch den Kopf. „Weißt du es wirklich nicht mehr?“ fragte ich noch leiser und sah auf meine Hände.
„Charles, rede mit mir!Was ist denn bloß los?“ sie drängte mich, etwas zu erzählen, was ich all die Jahre gut verschlossen in meinem Herzen gehalten hatte. Etwas, was... wie sollte ich ihr erklären, was ich war? Zu was ich sie gemacht hatte? Oder zumindest, zu was ich versucht hatte, sie zu machen? Wie erklärte man jemandem so etwas?

Ich holte das Samtbeutelchen aus meiner Tasche und drehte es mit der Öffnung auf meine Handfläche, sodass das Herz an der kette herausfiel.
„Erinnerst du dich noch daran? Und an das Versprechen, an das es gebunden war?“ meine Stimme zitterte. Erinnre dich, bitte. Erinnere dich! Flehte ich stumm und sie nahm mir die Kette aus den Händen und sah sie sich an, strich die Form mit ihrem Zeigefinger nach. Dann lächelte sie.
„Ja, das hast du mir geschenkt, wie könnte ich das vergessen? Aber das versprechen... ich...“
Plötzlich weiteten sich ihre Augen im Schreck und ruckartig war sie aufgestanden und vor mir zurückgewichen. Es tat unendlich weh, sie das tun zu sehen. Nie hätte ich gedacht, sie könnte Angst vor mir haben. Gleichzeitig wusste ich, das sie wusste, was damals passiert war.
„Ich habe dich gebeten, mich...“ sie schluckte hörbar. „Mich zu dem zu machen, was du bist.“ endete sie kaum hörbar und ich nickte. Vorsichtig kam ich ihr näher und berührte ihre Hand. Wie durch ein Wunder prallte sie plötzlich gegen mich, schlang mir die Arme um den Hals und schluchzte sich an meiner Brust die Seele aus dem Leib.

Ich konnte nicht anders, auch mir liefen die Tränen die Wangen hinab.
„Sarah. Meine Sarah. Mein Engel.“ flüsterte ich immer wieder und strich ihr beruhigend über den Rücken.
Sie sah langsam zu mir auf.
„Es... es tut mir so Leid...“ schluchzte sie und vergrub das Gesicht in meinem Hemd.
Wieso entschuldigte sie sich? Ich war derjenige, der ihr das angetan hatte, ich hätte mich bei ihr entschuldigen müssen!
„Sarah, was...“ flüsterte ich erschrocken und sie sah mich an, lehnte den Kopf gegen meine Brust und spielte mit der Kette in ihrer Hand.
„Dass ich nicht so bin wie du. Das es nicht funktioniert hat.“ murmelte sie erstickt und ich schnupperte an ihr. Sie hatte Recht, sie war ein Mensch.
Ich atmete hörbar aus.
„Ja... vielleicht... vielleicht ist das ganz gut so.“ sagte ich leise und jetzt war es an ihr, mich erschrocken anzuschauen.
„Was? Aber das heißt, wir sind wieder da, wo wir angefangen haben, oder?“ ihre Stimme bebte und ich senkte den Kopf.
„Sieht ganz so aus.“ ich begegnete ihrem Blick. „Sarah, da gibt es noch etwas, was du wissen musst.“ sagte ich leise und musterte sie wachsam. „Welches Jahr haben wir, Sarah?“ fragte ich und brachte sie damit das erste mal zum Lachen.
„Du Dummerchen! Weißt du das denn nicht? 1954 natürlich!“ ich schluckte hörbar und wandte den Blick ab.
„Nein.“, flüsterte ich. „Nein, das haben wir nicht.“
 
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