Meine Geschichten
  Verloren
 
„Aníro! Aníro, du musst aufwachen! Los doch, wach auf!“ jemand rüttelte an mir, aber es fühlte sich an, als würde man mich mit einer Feder streicheln.
Ich hörte Hufgetrappel hinter mir. „Was machst du denn für einen Lärm, kleines Wesen?“ fragte Nachtschatten. Langsam öffnete ich die Augen und sah mich um. Cárië flog dicht vor meinen Nüstern herum. Sie sah mich mit einem merkwürdigen Blick an, bei dem mir ganz komisch wurde. „Was ist denn los? Wieso weckst du mich?“
Sie zitterte und holte tief Luft.
„Deine…Eltern, Aníro sie…“ sie konnte nicht weiter sprechen, denn sie musste schluchzen. Mir wurde ganz anders. „Was, Mädel? Was ist denn?“ fragte ich leise. Ich hatte Angst vor der Antwort, auch wenn ich nicht wusste, warum.
„Sie…sie sind tot, Aníro. Die…diese Wesen waren da, als der rat gerade zusammengekommen war und… sie haben die Drachen angegriffen mit ihrer Magie. Alle anderen sind tot. Außer die ganz kleinen, die haben sie in Ruhe gelassen. Aber die haben auch furchtbare Angst. Deine Eltern waren die letzten, die noch gekämpft haben. Aber…sie haben es nicht geschafft. Es tut mir Leid.“ Wieder schluchzte sie leise und zitterte. Mein ganzer Körper wurde taub. Von weit, weit weg hörte ich die anderen reden. Mein Gehirn schien wie in Eiswasser getaucht, so wenig nahm ich wahr. Plötzlich schien meine Sicht zu verschwimmen und alles wurde Schwarz. Ich merkte nicht einmal, wie ich auf den blätterbestreuten Boden aufschlug.

Als ich wieder erwachte, war es um mich herum dunkel. Ich dachte einen Moment lang, ich wäre noch immer ohnmächtig, aber dem war nicht so. Es war draußen nur dunkel geworden.
Nachtschatten trat vor mich hin. „Na, wieder wach, kleiner?“
Ich drehte den kopf weg. Dann fiel mir aber wieder etwas ein und ich wandte mich zurück. Langsam richtete ich mich auf, bis ich mit ihm auf Augenhöhe war.
„Kannst du nicht meine Eltern wieder lebendig machen? In den alten Geschichten heißt es, ihr Einhörner könntet Tote wieder zum leben erwecken.“
Er wich einen Schritt vor mir zurück und sah mich lange an, bevor er sprach. „Nein, Kleiner. Das kann ich nicht. Zum einen, weil ich selber nur zur Hälfte ein Einhorn bin, und zum anderen funktioniert das nur, wenn die Person nicht von schwarzer Magie getötet wurde, was hier aber so zu sein scheint. Niemand kann ihnen mehr helfen, Aníro. Es tut mir Leid.“ Er ließ den Kopf hängen und entfernte sich leise. In mir kochte die Wut hoch. Ich war richtig wütend auf ihn. „Wieso versuchst du es nicht einfach?! Du hast es nicht einmal versucht und sagst es würde nicht klappen! Du willst mir gar nicht helfen! Du wolltest es nie!“ schrie ich ihm hinterher, bevor ich mich in die Luft schwang und davonflog.
„Aníro, warte! Wo willst du hin?“ rief jemand hinter mir, aber ich achtete nicht darauf, sondern flog nur noch schneller.

Es schien mir tagelang her zu sein, dass ich vom Wald aus aufgebrochen war. Aber endlich, als sich die Sonne schon dem Horizont näherte, kamen die Quellen in Sicht. Rasch landete ich davor und ging lautlos durch die Dampfschwaden. Wieder stach mir der Schwefelgeruch in die Nüstern, aber es kümmerte mich nicht.
Ich ging weiter und plötzlich lichtete sich der Nebel und der Dampf in meinem Blickfeld und ich konnte eine Gestalt erkennen, die dort am Boden lag. Sie bewegte sich noch. Ich stürmte darauf zu, in der Hoffnung, es seien vielleicht mein Vater oder meine Mutter. Doch nein. Es war der Alte.
Angewidert wollte ich mich wieder umwenden und weitersuchen, da packte mich etwas am Hinterlauf und hielt mich fest. Knurrend fuhr ich herum. Er starrte mich aus seltsam leeren Augen an, doch schien er wahrzunehmen, wer ich war.
„Hilf mir…“ flüsterte er kaum hörbar und sah mich flehend an. Ich kniff wütend die Augen zusammen und knurrte noch lauter. Sein Griff um mein Bein verstärkte sich noch mehr und er zog mich ein Stück zu sich heran.
„Bitte…“
Ich riss mich los und beugte mich zu ihm hinab. „Hast du meinen Eltern geholfen? Hast du das? Hast du nun endlich den Handlungsbedarf gefunden, den du brauchtest?“
„Hilf mir…“ flüsterte er wieder. Ich fauchte und sah ihn an. Seine Augen wurden trüb. Er zuckte noch ein letztes Mal, dann erschlaffte der Griff um mein Bein vollkommen und er schloss mit einem letzten Seufzer die Augen ich wandte mich ab und suchte weiter nach meinen Eltern. Und ich brauchte nicht weit zu gehen. Schon nach einigen Metern konnte ich sie durch den Nebel sehen. Anders als bei dem Alten war ihnen nicht mehr zu helfen gewesen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und angefüllt mit einem stummen Entsetzen, das ihnen den Mund offen hatte stehen lassen. War der Tod so überraschend über sie hereingebrochen? Ich wollte es nicht wissen. Ich wollte nur hier bei ihnen sein. Langsam ließ ich mich neben der Flanke meiner Mutter nieder und kuschelte mich an sie. So, wie ich es früher immer getan hatte. Das schien jetzt so unendlich lange her. Ich wollte das alles nicht. Immer wieder flüsterte ich diese Worte, so, als könnte sie mich hören und mich trösten wie damals. Doch das konnte sie nicht. Das würde sie nie wieder können. Und ich blieb liegen und wartete. Wartete auf den eigenen Tod. Ich wollte hier Seite an Seite mit ihnen sterben.
 
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