Meine Geschichten
  Die Hüter der Schlüssel
 
Allein stand Faroth vor der hohen Eichentür und starrte in die verregnete Nacht hinaus. Schon seit Stunden stand er hier und immer wieder fielen ihm die Augen zu. Er musste wach bleiben! Er durfte nicht einschlafen. Wenn nur endlich die Wachablösung käme…
Er rieb sich verschlafen die Augen und fuhr sich durch die kinnlangen schwarzen Haare.
Dann lehnte er sich leicht gegen den Türsturz, eine Sekunde nur. Klirrend schlug die metallbeschlagene Scheide seines Anderthalbhänders gegen die Wand. Er starrte hinaus in die Nacht und versuchte durch die Dunkelheit und die Regenschleier etwas zu erkennen.
Und er wusste, warum er hier Wache stand. Er musste seinen Herrn Alcáre und den Schlüssel, den er besaß, um jeden Preis beschützen. Niemand durfte in seine Nähe, vor allem nachts nicht. Sein Herr gehörte zu den sieben Telmá Tiríondûr, den Hütern der Schlüssel. Er war der Oberste der sieben. Und eine Nacht wie diese hatte etwas an sich, dass Gefahr gerade zu anzog. Seine Augen brannten und seine Lieder wurden immer schwerer. Wenn er doch nur für einen Augenblick die Augen schließen dürfte…
Erst sah er nicht, wie ein dunkler Schatten durch das Fenster schlüpfte und an der Wand entlang in Richtung Decke kroch. Dann aber streifte ein Luftzug sein Gesicht und er schlug die Augen auf. Suchend blickte er sich um. Die Vorhänge vor dem Fenster klatschten regenschwer gegen die Wand. Die kalte Luft wehte durch die zerbrochenen Fensterscheiben herein und ließ ihn frösteln. Hatte er wirklich so tief geschlafen, dass er nicht das Splittern des Glases gehört hatte? Er hatte doch nur…
Doch er kam nicht dazu, weiter zu denken, als sich eine Gestalt von oben herabsenkte, bis sein kopfüber hängendes Gesicht gleichauf mit dem des Elben war.
Er starrte in ein paar leuchtend roter Augen und ein Gesicht so weiß wie ein Blatt Papier. Das Wesen hing an der Decke wie eine Spinne und zog jetzt die Oberlippe zurück, sodass ein paar dolchartiger Zähne zum Vorschein kam. Die Kreatur stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus. Faroth wollte sich von dem Anblick losreißen, doch er vermochte es nicht. Vorsichtig tastete er nach seinem Schwert, doch bevor er dem Wesen die Klinge in den Körper rammen konnte, griffen von hinten zwei feingliedrige weiße Hände um seinen Hals und drückten zu. Er wollte sich wehren, aber das Schwert rutschte ihm aus den kraftlosen Fingern. Kurz bevor der Elb glaubte, zu ersticken ließ die Kreatur von ihm ab. Er versuchte etwas zu erkennen, aber seine Sicht war verschwommen und er bekam kaum Luft. Bevor er noch etwas anderes sagen oder tun konnte, spürte er ein scharfes Stechen an seinem Hals und ein seltsames Ziehen, dann wurde alles schwarz.

                        ***********

Am nächsten Morgen herrschte ein heilloser Aufruhr im Palast des Fürsten. Der Wächter lag tot vor der Tür, zwei kleine Löcher im Hals und einen merkwürdigen Ausdruck des Erstaunens auf dem Gesicht. Der Fürst war nicht verletzt oder gar tot, nur der Schlüssel fehlte.
Gleich darauf wurde in der Haupthalle des Palastes ein Krisenrat einberufen.
„Ihr werdet inzwischen alle erfahren haben, was heute Nacht passiert sein muss. “ Ergriff Fürst Alcáre das Wort. „Für diejenigen, die es nicht wissen: Der Wächter, der heute Nacht vor meiner Tür Dienst hatte um den Schlüssel zu bewachen, ist ermordet worden“, ein Raunen ging durch die Menge, einige sahen richtig erschrocken aus. “Aber das ist noch nicht alles. Der Schlüssel wurde ebenfalls entwendet, während ich schlief. Mir wurde – das könnt ihr alle sehen – kein Leid angetan, und doch ist das ein bitterer Verlust. Einer der sieben Schlüssel ist verschwunden, was mit den anderen ist, weiß man noch nicht. Wenn einer von euch etwas gesehen oder gehört hat, soll er es jetzt bitte sagen. Oder war es gar einer von euch?“ er blickte forschend in die Runde.
„Ja, klar. Einer von uns hat den armen Faroth in den Hals gebissen, sein Blut getrunken und Euch dann den Schlüssel geklaut!“ Kam es von irgendwo ganz hinten, den Sprecher konnte er nicht ausmachen. Wahrscheinlich ein junger Nichtsnutz, der sich einen Spaß erlauben wollte.
„Genau“, meldete sich jetzt ein anderer. “Einer von uns zieht Nacht für Nacht aus und saugt Leuten das Blut aus!“
Alcáre musste sich beherrschen, um nicht die Augen gen Decke zu verdrehen.
„Seid doch mal ernst, bitte. Das ist wirklich nicht lustig. Versteht ihr denn gar nicht, was es heißt, das der Schlüssel weg ist? Unser wichtigstes Geheimnis ist gestohlen worden. Wenn derjenige, der den Schlüssel gestohlen hat, auch noch die anderen Schlüssel an sich reißen kann, kann das den Untergang aller bedeuten!“
Jetzt lachte niemand mehr.
„Aber wieso holen wir uns den Schlüssel nicht einfach wieder?“ fragte ein anderer Elb, der auch noch nicht allzu weise sein konnte.
„Weil wir nichts wissen über den Dieb als das er anscheinend eine Vorliebe für magisches Blut hat!“ rief Alcáre dazwischen. „Wir haben keinerlei Anhaltspunkt, wohin er geflohen sein könnte…oder sie.“ Er sah in die Runde. „Wir müssen die anderen Fürstentümer benachrichtigen, die ebenfalls einen Schlüssel besitzen. Und natürlich die Königin selbst, denn auch sie besitzt einen Schlüssel. Wenn wir erfahren haben, was mit den anderen Schlüsseln ist, kann sich gerne einer von euch auf den Weg machen, unseren Schlüssel zu suchen, wenn er es vermag.“ Er wandte sich zu seinem Protokollschreiber, der hinter ihm saß und die Sitzung aufzeichnete. Dann beugte er sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als er wieder aufblickte, war sein Blick ruhig und nicht so panisch wie die der anderen. „Ihr könnt jetzt gehen. Die Sitzung ist beendet. Wer noch Fragen oder etwas zu sagen hat, kann nachher in mein Arbeitszimmer kommen.“
Dann erhob er sich und ging mit seinen Dienern davon.

                        *******

Schwer ließ sich Nelinómë auf den Thron sinken. Das Schreiben in ihrer Hand zitterte leicht. Der Raum war komplett leer, nur ein fernes Rauschen vom Springbrunnen war zu vernehmen. Jetzt sank die Wassersäule immer weiter in sich zusammen und erstarb schließlich ganz.
„Celahir, Maedrhos!“ Wie aus dem Nichts erschienen die beiden Elben an ihrer Seite.
„Wo ist der Schlüssel?“ fragte sie leise. Es war mehr ein Flüstern denn irgendetwas anderes.
Celahir neigte sich zu ihr. „Sicher verwahrt, Herrin.“
„Bist du ganz sicher? Bringe mir den Schlüssel, damit ich mich selbst überzeugen kann. Du weißt, wo du ihn findest.“
Er verneigte sich knapp und sah sie dann wieder an. „Wir können das auch verschieben, Herrin. Euch scheint es nicht gut zu gehen, ich möchte Euch nicht…“
Sie wedelte unwirsch mit einer Hand, mit der, die den Brief hielt. „Es geht mir gut. Und jetzt holt mir endlich diesen Schlüssel!“
Celahir verschwand mit eiligen Schritten. Minutenlang blieb es still.
Dann kehrte Celahir mit dem Schlüssel zurück.
„Hier ist er, Herrin. Unversehrt.“ Sie nickte schwach. „Gut. Ich habe Nachricht erhalten, wonach der Schlüssel des Fürsten Alcáre verschwunden ist. Einer seiner Leibwächter wurde mit merkwürdigen Wunden am Hals vor der Tür seiner Gemächer aufgefunden. Natürlich war er tot. Und der Schlüssel war verschwunden. Da der Fürst befürchtet, dass auch die anderen Schlüssel gestohlen werden könnten, muss unser Schlüssel fortgeschafft werden. Und den anderen müssen wir wieder beschaffen, so schnell es geht. Je mehr Schlüssel dieser Dieb an sich bringt, desto größer wird seine Macht über uns. Das darf nicht geschehen! Ihr beide müsst dafür sorgen, dass das nicht passiert!“
Wieder nickten sie und Nelinómë händigte Celahir den Schlüssel aus. „Achte gut auf ihn. Er ist unsere einzige Hoffnung, das Böse zu besiegen. Geht jetzt und sucht diesen Dieb. Lasst euch auch von den anderen Hütern ihre Schlüssel aushändigen. Wenn sie alle an einem Ort versammelt sind, mag das riskanter sein, sie alle zu verlieren, aber wir werden einen Ort finden, an dem sie keiner vermutet.“
Die beiden Elben verbeugten sich und verließen den Thronsaal. Keine Viertelstunde später waren sie zum Aufbruch bereit und schwangen sich in den Sattel, um die anderen Hüter aufzusuchen.
 
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