Meine Geschichten
  Wiedererkennungswert und Alibis
 
Je mehr das Bild vor meinen Augen Gestalt annahm, desto sicherer war ich mir, dass ich die Person auf der Zeichnung kannte. Schließlich hatte ich schon früher mit diesem Mann zu tun gehabt. Endlich legte der Phantomzeichner den Stift hin und blies den letzten Staub des Stiftes von der Zeichnung, um es dann uns allen zu zeigen. Ich hörte, wie John hinter mir scharf Luft holte. Das Gesicht dieses Mannes vergaß man nicht, auch nicht, wenn man es nur ein Mal gesehen hatte. Dichtes, schwarzes Haar, fast schon stechende grüne Augen und kantige Gesichtszüge.
Er starrte uns alle von der Zeichnung aus an, als wolle er uns allein mit Blicken erdolchen.
Und den Namen der Person kannte ich ebenfalls. Er war Arzt in dem Krankenhaus, in dem auch Guillermo arbeitete. Wenn ich mich recht erinnerte, war er sogar Chirurg.

Und plötzlich fügten sich die Bilder zu einem Mosaik mit einem hässlichen Motiv. Die blutleeren Leichen. Die Frau, die wir an einen Baum genagelt gefunden hatten und der sämtliche inneren Organe fehlten. Die so präzise entfernt worden waren, das es nur ein Mensch mit außergewöhnlich gutem Medizinischem Verstand hatte bewerkstelligen können. Das Guillermo so gut gewusst hatte, was angeblich die beiden Frauen verletzt hatte. Oder viel eher wer.
Hatte er nichts sagen können oder wollen, weil er sonst seinen Kollegen in Gefahr gebracht hätte? Oder am Ende sich selbst? Arbeiteten sie vielleicht zusammen? Diese und noch viele andere Fragen schwirrten durch meinen Kopf wie in einem Minitornado und ließen sich weder sortieren, noch stoppen.

Aber wenn ich Guillermo und seinen Kollegen mit den Beweisen konfrontieren wollte, musste ich zuerst mehr erfahren.
Ich ging näher zu der jungen Frau und setzte mich dann rittlings auf einen der herumstehenden Stühle, verschränkte die Arme auf der Lehne und stützte lächelnd mein Kinn darauf.
Auf manch einen hätte es vielleicht aufdringlich gewirkt, ich jedoch tat mein möglichstes, höflich und mitfühlend zu sein.
„Entschuldigen Sie. Ich weiß, Sie befinden sich sowohl seelisch als auch körperlich in keiner guten Verfassung, aber ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie. Wenn Sie so freundlich wären, mir diese zu...“ fing ich an, aber gleich zwei Stimmen ließen mich nicht ausreden.
„Das haben wir doch vorhin alles schon gemacht! Sie hat nichts genaues gesehen oder gehört!“ kam es wütend und genervt von John. Charles schaltete sich sogleich dazwischen. „Ich möchte nicht, das meine Mitarbeiterin weiterhin diesen barbarischen Vierhörmethoden ausgesetzt wird! Wir sind hier nicht im Hobby-Detektivclub!“ er sah mich strafend an. Mir war gar nicht aufgefallen, das und wann er wieder in den Raum gekommen war. Scheinbar hatte er sich lautlos hinein gestohlen, als ich gerade durch meine Gedanken abgelenkt war.

Ich erwiderte nichts darauf, sondern blieb sitzen.
Charles' Rezeptionistin sah mich unsicher an, schien aber nicht abgeneigt, mir meine Fragen zu beantworten.
„Können Sie sich noch an etwas mehr erinnern als an das Gesicht des Mannes? Vielleicht an einen bestimmten Geruch oder etwas auffälliges an seiner Kleidung? Haben Sie mit ihm gesprochen und seine Stimme erkannt?“ Ich ließ ihr einige zeit, nachzudenken während um mich herum Schweigen herrschte. Charles tigerte unruhig im Raum auf und ab, wie ein Löwe in einem zu kleinen Käfig, die Zähne fest zusammen gebissen. Er wusste ja, welchem Geheimnis ich so sehr auf der Spur war, was wohl auch der Grund gewesen war, warum er mich so vehement hatte abhalten wollen, mehr zu erfahren.
Doch ich wurde enttäuscht. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein. Da war nichts... ich bin... ich bin nur wie jeden Abend nach Dienstschluss diese Gasse entlang gegangen und da... da hat...“ ich konnte sehen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und sie lautlos schluchzte. John bot ihr, wenn auch zögerlich, sein Taschentuch an und sie nahm es verlegen und schnäuzte sich.

„Jemand packte mich an der Schulter und drückte mich gegen die Wand. Und dann... dann spürte ich nur noch wie er mir so etwas wie ein Messer oder einen anderen spitzen Gegenstand in den Hals rammte und weg rannte. Ich... ich fiel zu Boden und ich hatte so unglaubliche Schmerzen... aber zum Glück ging es noch einmal gut. Mr. Fitz- ich meine, Mr. Kostan fand mich und brachte mich hier her.“
Erklärte sie knapp. Ich sah Charles an. Hatte er seine Identität gewechselt? Oder war Charles Fitzgerald nie sein richtiger Name gewesen?
Johns Blick wechselte verwirrt und misstrauisch von einem zum anderen. „Sie meinen, Mr. Fitzgerald hat Sie hier her gebracht.“ stellte er richtig, doch sie schüttelte den Kopf, kam aber nicht dazu, etwas zu sagen, da Charles sich einschaltete.
„Nein, Sie hat schon Recht. Charles Fitzgerald gibt es nicht mehr.“ erklärte er. Da wurde sogar John noch misstrauischer, als er es bis zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon gewesen war. Er trat ganz dicht an Charles heran und sah zu ihm auf. Bei einem Mann, der über eins achtzig groß war, musste er das auch. John ging Charles gerade mal bis zur Brust, was dieser mit einem amüsierten Grinsen zur Kenntnis nahm.

„Sie wollen also sagen, Sie haben diesen Charles umgebracht und seine Identität angenommen, und als es Ihnen zu heiß wurde, da haben Sie...“ ich hatte erwartete, das Charles wütend reagieren würde, aber aus seinem Mund kam ein ungläubiges und spöttisches lachen.
„nein, das sehen Sie falsch, Herr Kommissar. Ich will damit sagen, das ich meine Identität gewechselt habe. Ich heiße offiziell nicht mehr Charles Fitzgerald, sondern...“
John wurde rot wie eine Tomate. Gleich würde einer dieser berüchtigten Coalschen Wutausbrüche kommen, die viele der jüngeren Mitglieder bei der Polizei schon zu Genüge kannten.
„Also haben Sie doch etwas damit zu tun! Wer seine Identität wechselt, macht sich automatisch verdächtigt. Am Ende waren Sie es selbst, der ihr das angetan hat und dann spielten Sie den helfenden Engel, um gut bei ihr da zu stehen!“
Wieder ein schnaubendes lachen.
„Hören Sie, Sie Möchtegern-Sherlock. Sie und ihr Dr. Watson da“, er nickte zu mir herüber, was mir ein Lippenkräuseln entlockte, das man auch als Zähnefletschen deuten konnte, „können aufhören, in mir den Schuldigen zu suchen. Ich weiß, ich habe viel Geld, und es bringt mir sicherlich viel, meine Angestellten umzubringen, weil ich dann neue einstellen kann, aber ich war es nicht!“ Diesmal klang er schon deutlich saurer und da war ein Funkeln in seinen Augen, das ich zuletzt gesehen hatte, als er mich aus dem Schrank gezerrt hatte.
„Wenn sie gesehen hätte, das ich es gewesen bin, der sie angegriffen hat - und ich versichere ihnen, das ich es nicht war – dann würde sie ihnen das sagen. Und ich wäre wohl kaum so dumm und würde hier auftauchen, wenn doch eine Chance bestünde, das sie mich identifizierte. Nein, denn dann hätte ich mich längst sonst wohin abgesetzt und erneut meine...“ Wieder ließ John ihn nicht ausreden, er bohrte ihm schon triumphierend den Finger in die Brust, sodass Charles einen Schritt zurück machte.

„AHA!“ brüllte er triumphierend. „Dann haben Sie also jemand anderen umgebracht und mussten deswegen Ihre Identität und das Land wechseln! Ist es nicht richtig, das Sie bis vor kurzem in New York gelebt und gearbeitet haben?“ Erschrocken hielt ich die Luft an. Die junge Rezeptionistin schlug die Hände vor den Mund und wurde weiß wie die Wand. Charles biss so fest die Zähne aufeinander, das die Kiefermuskeln hervortraten. Es musste ein Trick des Lichtes gewesen sein, denn in seinen Augen blitze es kurz silberhell auf. Sicher nur ein Lichtreflex. Und das grollende Geräusch war ein Auto, das unten auf der Straße vorbei fuhr. Binnen eines Lidschlages war die Erscheinung verschwunden.
„Ich habe niemanden umgebracht.“ presste er hervor, jede Silbe überdeutlich betont, als spräche er zu einem kleinen Kind.
„Treiben Sie es nicht zu weit, verstanden? Man könnte auf die Idee kommen, Sie suchen mit allen Mitteln nach einem Schuldigen, weil Sie sonst nichts anderes vorzuweisen haben und das wieder ein Fall wäre, den die Polizei nicht lösen kann. Das wäre ein ziemlicher Schandfleck, das kann ich mir vorstellen. Aber bitte halten Sie Leute da raus, die damit rein gar nichts zu tun haben!“ Wütend riss er sich los, stürmte zur Tür und schlug sie krachend hinter sich zu.

Verwirrt sahen John und ich uns an. Gut, vielleicht hatte Charles nichts mit den Vorfällen zu tun, aber er benahm sich dennoch äußerst merkwürdig, und ich wollte wissen warum.
Nächstes Ziel war also der Aufenthaltsort dieses Mannes irgendwo hier in diesem Krankenhaus.

An der Rezeption ließ ich mir den Aufenthaltsort von dem Mann auf dem Phantombild geben. Torin Davis hieß er. Chirurg und Chefarzt der chirurgischen Abteilung. Ich wurde ins Ärztezimmer geschickt, also machte ich mich dort hin auf den Weg.
Doch die Tür stand einen Spalt breit offen und als ich näher kam, hörte ich eine mir bekannte Stimme.
„Das hättest du nicht tun dürfen! Sie hat es überlebt, das hätte nicht...“ Eindeutig der Pathologe Guillermo, mit dem ich hier als allererstes zu tun bekommen hatte.
„Das weiß ich auch! Ich dachte ja, sie wäre tot. Aber dann kommt Fitzgerald und... ich konnte nicht da bleiben um es zu Ende zu bringen! Aber noch einmal wird das nicht passieren.“
„Das hoffe ich. Das darf nicht noch einmal passieren. Bring sie zu mir, ich stelle dir eine Todesursache fest, an der niemand etwas wird drehen können und die Sache ist vergessen. Wir werden...“ er schwieg. Plötzlich näherten sich Schritte der Tür und sie wurde aufgezogen. Ein paar grüner, durchdringender Augen starrte mich an, dann hob der Mann eine Hand. Ich spürte nur noch, wie seine Handkante mit meinem Nacken kollidierte, dann senkte sich Schwärze über mich.
Sie werden mich töten, wie sie die Frau töten wollten... schoss es mir durch den Kopf, bevor ich endgültig weg sackte und auf den kalten Steinboden aufschlug. Das sie mich weg schleiften, merkte ich gar nicht mehr.
 
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